Der Vorkämpfer des körperlichen Musiktheaters an der Bayerischen
Staatsoper, dem Mekka der schönen Bilder, und dazu Beethovens
Oper über Gattentreue und die Befreiung des Menschen: Die
Mischung war brisant, und wirklich zankten sich nach der
Premiere am Dienstag laut die Bravo- und Buhrufer im Publikum.
Da geht etwas schief. Als es dunkel wird im Zuschauerraum,
beginnt eine Sängerin: zu sprechen. Anja Kampe, die in München
die Leonore gibt, rezitiert eine Passage aus „Labyrinth" von
Jorge Luis Borges, die an Kafka erinnert. „Es wird nie eine Tür
geben", sagt sie, und „Das Kastell umschließt den Kosmos". Dann
dirigiert Daniele Gatti am Pult des Bayerischen Staatsorchesters
Beethovens dritte Leonoren-Ouvertüre: temperamentvoll, präzise -
und so laut, dass die Sänger ein ernstes Problem bekommen werden
und das leicht emotionalisierbare Münchner Publikum ein erstes
Ziel lautstarken Protests.
Beethovens Kammerspiel
in einem Kerker-Irrgarten
Doch davon später.
Jetzt hören wir das Vorspiel, und wir sehen, wie Leonore sich
vor einem labyrinthischen Gestänge die Brüste
einschnürt,
ganz fest. Sie will, sie wird ein Mann sein: Fidelio. Hinter ihr
füllen sich die Plattformen aus Plexiglas mit Menschen, die mit
ihren Bewegungen verdoppeln, was in der Musik passiert. Im Film
nennt man das Mickeymousing, und nachdem das eine Zeit
lang
so gegangen ist, hat sich das Publikum auf ein zweites
Hassobjekt eingeschossen: den Regisseur Calixto Bieito, der ja
ebenfalls
in Stuttgart (vor allem mit seinen Inszenierungen
von „La fanciulla del West" und „Der Fliegende Holländer") im
Parkett für lärmen
des Missfallen gut war.
Auch der
mehrstöckigen, nach hinten kippbaren Kerker-Fantasie der
Bühnenbildnerin Rebecca Ringst mag ein Teil der Münchner Buhrufe
gegolten haben, denn ihr nüchterner Kerker-Irrgarten ist mit
daran schuld, dass hier von Beethovens Kammerspiel nichts mehr
geblieben ist. Das weltentrückte „Mir ist so
wunderbar"-Quartett: Es ist zwar zu hören, doch wirken kann es
nicht. Zu vieles rundherum ist in Bewegung, zu vieles klingt im
Orchester zu laut.
Vor allem aber hat Bieito dem Stück
die politische Ebene und damit dem Privat-Intimen Kontrast, sich
wirft, jemandem gehorchen, der sich gar nicht mehr als
Machthaber definiert?
Was tun ohne politischen Anlass
Gefangene im Gestänge, warum hängt sich einer von ihnen, nachdem
er ausgiebig Blut gespuckt
hat, auf, wie konnte es zu der
Intrige kommen, in deren Folge Florestan hier eingesperrt wurde,
und warum ziehen sich die
Eheleute nach der Befreiung um -
wenn nicht zum Zeichen gesellschaftlicher Wiedereingliederung?
Wenn Bieito am Ende den Minister als schrille künstliche
Witzfigur aus der Loge mit einer Schreckschusspistole für
Gerechtigkeit sorgen lässt, dann hat dies immerhin eine gewisse
Konsequenz: Die Kunst, will er sagen, ist der letzte
Zufluchtsort wahrer Freiheit. Diesem bedenkenswerten Gedanken
erwächst sogar die einzige wirklich zart-poetische Szene des
Abends: Im Finale schweigt plötzlich das Orchester still, vom
Schnürboden schweben in Käfigen vier Musiker, zu hören sind wie
von Ferne die schon zerfasernden Klänge des Adagio-Satzes aus
Beethovens spätem Streichquartett op. 132.
Bieito
als Gefangener seines eigenen Ideenkosmos
Zwar
findet die Brechung des Jubelglücks auf der Bühne noch mehrfach
statt, doch die Momente leiser Ironie sind stärker. Sie mildern
im Rückblick sogar ein wenig das Urteil sowohl über manche
Plattitüde zuvor als auch über manchen Rückgriff des Regisseurs
auf sein inzwischen sattsam bekanntes Bild-, Gedanken- und
Gestenrepertoire. Offenbar gehört Bieito selbst zum Kreis jener
Menschen, deren Gefangensein im eigenen Ideenkosmos er in seiner
„Fidelio"-Inszenierung zum Thema macht. Auch dieser Gedanke ist
bedenkenswert.
Das Urteil über die Sänger lässt sich
allerdings nicht schönfärben: Neben der reichlich tremolierenden
Laura Tatulescu, die als
Marzelline schon im ersten Akt einer
sanften geistigen Umnachtung anheimfällt, und neben Jussi
Myllys, der als Jaquino demonstriert, dass er exzellent den
Handstand beherrscht, singt Anja Kampe eine Leonore mit lohender
Mittellage, aber enger, oft schriller Höhe, und Wolfgang Koch
fehlt für den Pizarro die nötige Tiefe. Für sie sorgt auf
exzellente Weise immerhin Franz-Josef Selig als Rocco.
Ja, und dann ist da noch Jonas Kaufmann. Leider muss dieser -
halb verhungert, wie man zuvor erfuhr - ausgerechnet mit einem
unendlich langen und lautem Einsilber die akustische Bühne
betreten (oder ist er beim "Gott! Welch Dunkel hier!" gar kein
Gefangener der musikalischen Dramaturgie, sondern nur seiner
eigenen Ideen.) Doch dann singt er selbst das Zerdehnte so
schön, mit so viel Strahlkraft, Kern und Glanz, dass man dem
Augenblick heimlich sogar ein längeres Verweilen wünscht. Der
Wunsch geht selbstredend nicht in Erfüllung. „Gerecht, o Gott,
ist dein Gericht! ", singt nur der Minister. Da ist aber mächtig
was schiefgegangen.