Stuttgarter Nachrichten, 23.12.2010
Susanne Benda
Beethoven: Fidelio, Bayerische Staatsoper, 21. Dezember 2010
Kerker im Kopf
 
Wie Regisseur Calixto Bieito in München an Beethovens "Fidelio" scheiterte und warum selbst Jonas Kaufmann das nicht ändern konnte
 
Der Vorkämpfer des körperlichen Musiktheaters an der Bayerischen Staatsoper, dem Mekka der schönen Bilder, und dazu Beethovens Oper über Gattentreue und die Befreiung des Menschen: Die Mischung war brisant, und wirklich zankten sich nach der Premiere am Dienstag laut die Bravo- und Buhrufer im Publikum.

Da geht etwas schief. Als es dunkel wird im Zuschauerraum, beginnt eine Sängerin: zu sprechen. Anja Kampe, die in München die Leonore gibt, rezitiert eine Passage aus „Labyrinth" von Jorge Luis Borges, die an Kafka erinnert. „Es wird nie eine Tür geben", sagt sie, und „Das Kastell umschließt den Kosmos". Dann dirigiert Daniele Gatti am Pult des Bayerischen Staatsorchesters Beethovens dritte Leonoren-Ouvertüre: temperamentvoll, präzise - und so laut, dass die Sänger ein ernstes Problem bekommen werden und das leicht emotionalisierbare Münchner Publikum ein erstes Ziel lautstarken Protests.

Beethovens Kammerspiel in einem Kerker-Irrgarten

Doch davon später. Jetzt hören wir das Vorspiel, und wir sehen, wie Leonore sich vor einem labyrinthischen Gestänge die Brüste
einschnürt, ganz fest. Sie will, sie wird ein Mann sein: Fidelio. Hinter ihr füllen sich die Plattformen aus Plexiglas mit Menschen, die mit ihren Bewegungen verdoppeln, was in der Musik passiert. Im Film nennt man das Mickeymousing, und nachdem das eine Zeit
lang so gegangen ist, hat sich das Publikum auf ein zweites Hassobjekt eingeschossen: den Regisseur Calixto Bieito, der ja ebenfalls
in Stuttgart (vor allem mit seinen Inszenierungen von „La fanciulla del West" und „Der Fliegende Holländer") im Parkett für lärmen
des Missfallen gut war.

Auch der mehrstöckigen, nach hinten kippbaren Kerker-Fantasie der Bühnenbildnerin Rebecca Ringst mag ein Teil der Münchner Buhrufe gegolten haben, denn ihr nüchterner Kerker-Irrgarten ist mit daran schuld, dass hier von Beethovens Kammerspiel nichts mehr geblieben ist. Das weltentrückte „Mir ist so wunderbar"-Quartett: Es ist zwar zu hören, doch wirken kann es nicht. Zu vieles rundherum ist in Bewegung, zu vieles klingt im Orchester zu laut.

Vor allem aber hat Bieito dem Stück die politische Ebene und damit dem Privat-Intimen Kontrast, sich wirft, jemandem gehorchen, der sich gar nicht mehr als Machthaber definiert?

Was tun ohne politischen Anlass Gefangene im Gestänge, warum hängt sich einer von ihnen, nachdem er ausgiebig Blut gespuckt
hat, auf, wie konnte es zu der Intrige kommen, in deren Folge Florestan hier eingesperrt wurde, und warum ziehen sich die
Eheleute nach der Befreiung um - wenn nicht zum Zeichen gesellschaftlicher Wiedereingliederung?

Wenn Bieito am Ende den Minister als schrille künstliche Witzfigur aus der Loge mit einer Schreckschusspistole für Gerechtigkeit sorgen lässt, dann hat dies immerhin eine gewisse Konsequenz: Die Kunst, will er sagen, ist der letzte Zufluchtsort wahrer Freiheit. Diesem bedenkenswerten Gedanken erwächst sogar die einzige wirklich zart-poetische Szene des Abends: Im Finale schweigt plötzlich das Orchester still, vom Schnürboden schweben in Käfigen vier Musiker, zu hören sind wie von Ferne die schon zerfasernden Klänge des Adagio-Satzes aus Beethovens spätem Streichquartett op. 132.

Bieito als Gefangener seines eigenen Ideenkosmos

Zwar findet die Brechung des Jubelglücks auf der Bühne noch mehrfach statt, doch die Momente leiser Ironie sind stärker. Sie mildern im Rückblick sogar ein wenig das Urteil sowohl über manche Plattitüde zuvor als auch über manchen Rückgriff des Regisseurs auf sein inzwischen sattsam bekanntes Bild-, Gedanken- und Gestenrepertoire. Offenbar gehört Bieito selbst zum Kreis jener Menschen, deren Gefangensein im eigenen Ideenkosmos er in seiner „Fidelio"-Inszenierung zum Thema macht. Auch dieser Gedanke ist bedenkenswert.

Das Urteil über die Sänger lässt sich allerdings nicht schönfärben: Neben der reichlich tremolierenden Laura Tatulescu, die als
Marzelline schon im ersten Akt einer sanften geistigen Umnachtung anheimfällt, und neben Jussi Myllys, der als Jaquino demonstriert, dass er exzellent den Handstand beherrscht, singt Anja Kampe eine Leonore mit lohender Mittellage, aber enger, oft schriller Höhe, und Wolfgang Koch fehlt für den Pizarro die nötige Tiefe. Für sie sorgt auf exzellente Weise immerhin Franz-Josef Selig als Rocco.

Ja, und dann ist da noch Jonas Kaufmann. Leider muss dieser - halb verhungert, wie man zuvor erfuhr - ausgerechnet mit einem unendlich langen und lautem Einsilber die akustische Bühne betreten (oder ist er beim "Gott! Welch Dunkel hier!" gar kein Gefangener der musikalischen Dramaturgie, sondern nur seiner eigenen Ideen.) Doch dann singt er selbst das Zerdehnte so schön, mit so viel Strahlkraft, Kern und Glanz, dass man dem Augenblick heimlich sogar ein längeres Verweilen wünscht. Der Wunsch geht selbstredend nicht in Erfüllung. „Gerecht, o Gott, ist dein Gericht! ", singt nur der Minister. Da ist aber mächtig was schiefgegangen.

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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