Der katalanische Regisseur, der als Bad Boy des Musiktheaters
gilt, hatte um die Staatsoper bisher einen Bogen gemacht
Der Lichtblick leuchtet im allerdunkelsten Kerker. Wie
ein Pfeil schießt immer heller strahlend und immer lauter Jonas
Kaufmanns "Gott", aus tiefster Tenorkehle bis zur Gaumendecke
emporsteigend, ins Münchner Nationaltheater. Und dann weiter:
"Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille!" Das zieht sich
gewaltig, der sehr merkwürdige Dirigent will es so. Doch der
Star ist ein vorbildlicher, atemsatter Florestan mit einem nicht
zu verleugnenden Hang zum Knödeln. Eine gesunde Stimme in einem
theatralisch geschundenen Körper. Die Jahre im Staatsgefängnis
liegen ihm ausdrucksstark im Hals, aber das heldische
Aufbegehren hat er sich standhaft bewahrt. Ansonsten krümmt er
sich schön bildhaft im blauen Pyjama, kämmt als tickhafte
Übersprungshaltung die sonst von vielen Damen wegen ihrer
schönen Locken verehrten Haare, zieht sich selbst - "zur
Freiheit ins himmlische Reich" - an einer Stange empor und wird
viel herumgeschleift. In "Fidelio" macht man als männliche
Hauptrolle eine Menge mit.
Jonas
Kaufmann singt zwar etwa nur 25 Minuten, aber die immerhin waren
es wert, gehört zu werden, trotz der Torpedos aus dem
Orchestergraben. Ebenso die paar Takte des ersten
Gefangenen, die der junge Dean Power mit zarter Kraft
intonierte.
So ungefähr lautet die musikalische
Habenseite der Neuinszenierung von Beethovens
hochproblematischem Thesenwerk an der Bayerischen Staatsoper.
Schon das lyrische Paar, Kerkermeistertochter Marzelline (Laura
Tatulescu), vergeblich in Fidelio verliebt, der eigentlich
Leonore heißt, eine Frau ist und ihren Mann Florestan sucht, und
Pförtner Jaquino (Jussi Myllys), vergeblich in Marzelline
verliebt, waren vokal austauschbar harmlos und textlich
unverständlich. Es ist noch nicht so lange her, da wurde an
diesem Haus in einer "Fidelio"-Premiere die kranke Marzelline
der Helen Donath durch Lucia Popp ersetzt.
Dafür schmiert
sich jetzt Jaquino Liebesschwüre auf die nackte Brust, während
Marzelline höchst eindrucksvoll auf hohen Ansätzen noch höhere
Leitern erklimmt und sich manisch die Lippen nachmalt, bis sie
einer Clownsfratze gleichen. Da ist es nur folgerichtig, dass
der eigentlich Erlösung bringende Minister (ein ordentlicher
Steven Humes) in der Grinsemaske von Heath Ledgers fatalem
"Batman"-Joker über die Generalmusikdirektorenlogenbrüstung
springt und Florestan abknallt. Was ein echter Heldentenor ist,
der singt natürlich ungebrochen weiter.
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Keinen
guten Basstag hatte der an seinen geliebten Geldkoffer gekettete
Kerkermeister Rocco des trocken röhrenden Franz-Josef Selig.
Harmlos nett arbeitete sich der böse Gefängnisdirektor Pizarro
des Wolfgang Koch durch seine Arie, ein Zyniker mit Hang zur
Selbstverstümmelung. Der schlitzte sich die Stirn wie einst
Rainald Goetz während seines furiosen Auftritts beim
Bachmann-Preis, später wurde er von Leonore mit Gin und Säure
übergossen. Die wurde von Anja Kampe mit Größe und sympathischer
Ehrlichkeit gesungen, aber auch mit rissigen Schärfen im kühlen
Sopran und Koloraturfolgen als Hindernisläufen. Kein Wunder,
dass Claudio Abbado sie für seine neue, noch nicht
veröffentlichte "Fidelio"-Einspielung mit Kaufmann durch Nina
Stemme ersetzt hat.
Neben dem Tenor der Stunde
also ein durchschnittliches Sängerensemble. Das wäre zu
verschmerzen gewesen, wenn nicht der kaum noch Ernst zu nehmende
Daniele Gatti einen so konfusen, lähmend langweiligen,
verstockten Abend dirigiert hätte. Schon anfangs, in "Leonore
III", ausgerechnet der längsten aller vier möglichen
"Fidelio"-Ouvertüren, schlingerte Gatti von einem Tempounglück
ins nächste. Da klapperten die Einsätze, und das Staatsorchester
klang alles andere als motiviert. Erst zerfaserte der
Streicherteppich, dann holperte es gewaltig im verhetzten
Geschwindmarsch - so ging es unmotiviert weiter, bis am Ende
sogar der Chor ausbrach. Nach der Pause wurde Gatti massiv
ausgebuht, am Schluss traute er sich feige nie allein vor den
Vorhang.
Blödes Singspiel, Hohelied der Gattenliebe,
Tyrannenanklage, Freiheitsode, Pathosoratorium Menschheitsutopie
- natürlich ist "Fidelio" schwer. Aber Beethoven glaubte fest an
sein mühsam an der guten Absicht tragendes
Musiktheater-Schmerzenskind. Bei Calixto Bieito ist man sich
nicht so sicher. Seit neun Jahren Bad Boy des Musiktheaters,
hatte der Katalane in München zwar mit seinem kontroversen
Salzburger Schauspiel-"Macbeth" gastiert, aber bisher um die
Staatsoper stets einen Bogen gemacht; jetzt wurde er ersehnt und
machte gleichzeitig erzittern. Auf jeden Fall sollte er für
einen Skandal sorgen, deshalb wohl meinte manche Zeitung, erst
noch eine Bieito-Gebrauchsanweisung geben zu müssen. Das hätte
man sich sparen können, denn der Skandal fand nicht statt.
Bieito, in jedem, auch dem krudesten Fall, ein bekennender
Regisseur von Menschen, führte seltsam blutleere Puppen vor,
verschanzte sich hinter Maschinen und Konzepten.
Natürlich inszeniert heute kein Regisseur mehr "Fidelio" vom
Blatt. Die DDR der Vorwendezeit bot vielleicht die letzte
politische Legitimation für das oft auch missbrauchte Stück. Das
Libretto neu schreiben zu lassen, von Hans Magnus Enzensberger,
Walter Jens, Edward Said oder Martin Mosebach, hat zudem
Tradition. Konform zu den hier komplett fehlenden Sprechtexten
von Sonnleithner und Treitschke, die in München durch minimale
literarische Labyrinth-Variationen von Jorge Luis Borges und
Todesahnungen von Cormac McCarthy ersetzt sind, ist Rebecca
Ringsts Einheitsbühnenbild ein riesiger, gläsernkalt und
neonbleich schimmernder Irrgarten aus Gerüsten - mehr
Installation oder Klettergerät als Kulisse -, der zum zweiten
Teil langatmig aus der Senkrechten in die Wagrechte kippt. Er
wird schwerfällig erklommen, macht viel Lärm, zudem rauben
beständig einklickende Sicherungsseile jede Illusion von
Gefährlichkeit. Die Einbahnstraße als Metapher, der Mensch als
isolierte Monade in einem Gefängnis, das sein Kopf und seine
Ideologien sind. So etwas erweist sich als Kopftheater, atmet
kein dramatisches Leben. Natürlich bleibt das Instrument der
Macht bedrohlich stehen, das Gefängnis überdauert jeden
Befreiungsjubel.
Momente der Erschütterung in diesem
gedankenkalten "Fidelio" liefert lediglich eine werkfremde
Einlage vor dem Finale, an der Stelle, an der seit Mahler oft
die dritte Leonoren-Ouvertüre eingefügt wird. Aus der Höhe
schweben in drei Käfigen vier Streicher herab, spielen aus
Beethovens Opus 132 den im Unisono klagenden langsamen Satz,
molto adagio, im fremden, altkirchlich lydischen Modus, mit dem
Zusatz "Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit":
ein untröstliches Quartett auf das Ende der Zeit. Doch als
Anlass des Angerührtseins vermag es diesen zaudernden, ewig nach
dem großen Bildmoment greifenden Opernabend nicht zu retten.