Florestan taumelt im Schlafanzug durchs Labyrinth, das kein
Gefängnis ist, sondern eher eine Heilanstalt. Calixto Bieito
inszeniert Beethovens "Fidelio" an der Bayerischen Staatsoper
ohne jedes Freiheitspathos.
München "Gott! Welch Dunkel hier!
O grauenvolle Stille!" Diese Sätze kennt man. Florestan, der
eingekerkerte Revoluzzer, verzweifelt in Ludwig van Beethovens
Oper "Fidelio". Und Superstar Jonas Kaufmann stöhnt das
langgezogene "Gott" im Münchner Nationaltheater als dumpfes,
verschlossen-gaumiges Crescendo, als hätte dieser Gefangene seit
Jahren Redeverbot.
Freiheit? Die erträumt sich Florestan
nur noch im "himmlischen Reich". Doch seine Frau, sein "Engel"
Leonore, arbeitet schon ganz irdisch daran, ihn zu befreien.
Oder? "Es wird nie eine Tür geben", sagt sie in der
Neuinszenierung Calixto Bieitos, bevor das Bayerische Orchester
den ersten Takt der eigentlich jede Utopie aufschließenden
Ouvertüre "Leonore III" spielt. Nein, es gibt keinen Ausgang in
die Freiheit: "Erhoff nichts." Solche Sätze sind den
Opernkennern allerdings fremd.
Sie stammen von dem
Dichter Jorge Luis Borges (1899-1986). Der Argentinier war ein
surreal-fantastischer Nachfahre Franz Kafkas, und Labyrinthe
sind in seinem Werk allgegenwärtig: als ein Symbol dafür, "dass
man verloren ist im Leben". So ungefähr fühlt sich auch
Beethovens Florestan - vor der Rettung.
Bieito hat die
braven Dialoge des "Fidelio" (in der Fassung von 1814)
gestrichen und meist Borges-Zitate in die Handlung montiert. Die
Bühne von Rebecca Ringst zeigt entsprechend ein gigantisches
Labyrinth aus Metallrohren und Glaswänden, das irreal
ausgeleuchtet ist wie eine Computersimulation. Im Schlafanzug
turnt Florestan darin neurotisch herum, schon lange vor seinem
Auftritt im 2. Akt. Der Mann ist nicht Opfer eines Tyrannen,
einer Diktatur, sondern Gefangener seiner selbst, ein Fall für
den Psychiater. Und der von Beethoven auskomponierte Sieg des
Humanismus? Eher eine Farce aus Bieitos Sicht. Zumindest aber
die Privatsache von Florestan und Leonore, die sich ihrer
Gefühle bewusst werden müssen.
Auf jeden Fall inszeniert
Bieito keine Staatsaktion. Der Gefangenenchor tritt als
Gemeinschaft von Lemuren, schwebender Zappelwesen auf. "So ein
Zirkus", rief in der Premiere ein erboster Zuschauer in die
Szene hinein. Das Münchner Staatsopernpublikum muss sich noch an
Bieito gewöhnen. Aber es feierte die Sänger: allen voran Anja
Kampe als unverkrampft hell-dramatische, in allen Registern
sichere Leonore und Jonas Kaufmann, der mit kräftig
italienisch gefärbten Tenorausbrüchen gefiel, aber auch zuweilen
schlurig grummelte. Einen brutalen Pizarro sang
Wolfgang Koch.
Der oft als Skandalregisseur verschrieene
Bieito, der ein musikalischer, sehr schlauer Kopf ist und kein
billiger Provokateur, hat sich ziemlich viel Gedanken gemacht
über den "Fidelio", und in Interviews benannte er die wahren
"Gefängnisse der westlichen Welt": Gefühlszustände wie Liebe,
Treue, Verwirrung, Depression. Entsprechend zieht er seinen
"Fidelio" weg von einem real-politischen Drama, hin zur
Abstraktion innerer Gefühlswelten - leider auf Kosten der
emotionalen Wucht, die manche Bieito-Inszenierung auszeichnet.
Doch konsequent erzählt der Regisseur seine
Pathos-verweigernde Version: Nach der Emphase der "namenlosen
Freude" fahren Musiker in Käfigen vom Himmel, spielen das Molto
adagio aus Beethovens Streichquartett op. 132 - das vereinte
Paar Florestan und Leonore taumelt still im Labyrinth. Der
eigentlich heilbringende Minister Fernando (herrlich aufreizend:
Stephen Humes) taucht unter Spotlight in der Proszeniumsloge
auf, und zwar in der Gestalt Jokers, der Verkörperung des
nihilistisch Bösen in der Batman-Verfilmung "The Dark Knight".
Ferrando knallt auch mal zum Spaß mit der Pistole den Florestan
ab und malt das Wörtchen "frei" aufs weiße Schild, das die
glücklichen Eheleute an einer Drahtschlinge um den Hals tragen.
Buhs, aber auch Jubel für Regisseur Bieito. Ordentlich Unmut
erntete ebenso Daniele Gatti am Pult des Bayerischen
Staatsorchesters: genaues Arbeiten an Details, der Versuch, den
Beethoven aufzurauen; aber auch teils leidenschaftslos langsame
Tempi, gebremste Emphase und ein seltsam erdenschwerer -
gefangener - Klang.