Diesmal darf es ein Labyrinth sein. Das hat, wenn Ludwig van
Beethovens Oper «Fidelio» angesagt ist, seine Stimmigkeit. Herr
Rocco mag tatsächlich einen Gefängnispalast verwalten, und
Leonore, die ihre Weiblichkeit abgelegt und sich als Fidelio in
den Betrieb eingeschlichen hat, mag auf der Suche nach ihrem
eingekerkerten Gatten Florestan wirklich durch unendliche Gänge
eilen. An der Bayerischen Staatsoper München kann das Labyrinth
aber nicht spektakulär genug sein. Es erstreckt sich nicht etwa
in die Tiefe der Bühne, sondern füllt, in der Metall- und
Plexiglas-Konstruktion von Rebecca Ringst, die ganze Höhe des
Bühnenportals. Da kann nach Massen gekraxelt werden, und weil
derlei Übungen nicht ohne Gefahr sind, tragen die von Ingo
Krügler nach heutiger Manier gekleideten Darsteller allesamt
Gürtel, Kabel und Karabinerhaken mit sich. Immer wieder
schnallen sie sich an, wenn sie in luftiger Höh ihren
Beschäftigungen nachgehen. Auch das ist nicht ganz falsch: das
von uns selbst geschaffene gesellschaftliche System als
Gefängnis. Und doch ist es etwas lächerlich.
Denn so
gewaltig sich die Dekoration aufplustert, so schmalbrüstig ist,
im Grossen und Ganzen, der künstlerische Ertrag der jüngsten
Produktion im Münchner Nationaltheater. «Fidelio» hebt hier
nicht mit der «Fidelio»-Ouvertüre an, sondern mit der
«Leonoren»-Ouvertüre Nr. 3, die für eine andere Fassung des
Werks geschrieben ist. Warum das? Sie ist nicht besser und passt
nicht besser als die originale Ouvertüre – im Gegenteil, sie
führt einen verqueren Wechsel der Tonart ein, wenn es dann zur
ersten Nummer geht, dem Duett von Marzelline und Jaquino.
Störend sind überdies die sportlichen Exerzitien, die von den
Figuranten zur Ouvertüre absolviert werden, denn sie sind
naturgemäss mit Geräusch verbunden. Und mit einigem Erstaunen
verfolgt man, wie dumpf, fahrig und konturlos die mächtige Musik
Beethovens beim Bayerischen Staatsorchester klingt; an der
Premiere erhielt der Dirigent Daniele Gatti, als er nach der
Pause ans Pult trat, die Quittung in Form eines ziemlich
geschlossenen Buhkonzerts.
Gatti hat auch hingenommen,
dass zu dem wunderbar verinnerlichten Quartett am Anfang, einem
frühen Höhepunkt der Oper, die Teile des riesigen Gerüsts auf
der Bühne hin und her bewegt werden. Und dass, was nun wirklich
vollkommen unnötig ist, vor dem zweiten Finale ein
Streichquartett in drei vergitterten Käfigen aus dem Schnürboden
heruntergelassen wird, um mehr schlecht als recht einen Teil aus
Beethovens Streichquartett in a-Moll, op. 132, zum Besten zu
geben. Nicht übel passt dazu der Umstand, dass die Dialoge der
Oper – nun ja, sie wirken etwas gestrig, aber damit lässt sich
wenn nicht leben, so doch umgehen – gestrichen und durch innere
Monologe aus den Federn von Jorge Luis Borges und Cormac
McCarthy ersetzt worden sind. Das Skizzieren einer Handlung, das
Vorangehen in der Zeit, das Schaffen eines dramaturgischen
Zusammenhangs – all das ist somit gelöscht. «Fidelio» wirkt hier
denn auch nicht wie ein Werk des Musiktheaters, sondern wie ein
Stück Theater mit Musik und beinah wie einer jener ehedem auf
Langspielplatten erhältlichen Querschnitte mit den schönsten
Arien einer Oper.
Seinen besten Moment erlebt das
Konzept, wenn davon denn die Rede sein kann, nach der Pause. Vor
der enormen Auftrittsarie des Florestan wird der vordere Teil
des riesigen Gerüsts hydraulisch von der Vertikale in die
Horizontale gebracht, wozu die Figuranten aus dem Himmel
herunterschweben. Nun gut, das Spektakel war schon immer Teil
der Oper, und für die Flugmaschinen gilt dasselbe. Was hier aber
gründlich fehlt, ist die Einbindung, die Begründung des Effekts,
die Idee. Zu «Fidelio» scheint dem Regisseur Calixto Bieito rein
gar nichts eingefallen zu sein. Gewiss, als Marzelline darf
Laura Tatulescu Bein zeigen, wie es bei dem Opern-Provokateur
vom Dienst dazugehört. Dass sie, obwohl Tochter des
Gefängnisdirektors und somit draussen, nicht weniger gefangen
ist als die drinnen und dass sich das in psychotischen Ticks
äussert – das reicht noch nicht. Die Figur bleibt, auch
musikalisch, ebenso farblos wie die des armen Jaquino, wobei
sich Jussi Myllys immerhin als versierter Turner erweist. Wer
aber, zum Beispiel, ist Rocco? Franz-Josef Selig nimmt sich
seiner Partie routiniert an, darf jedoch die Charakterzüge
dieses anpasserischen Funktionärs nicht herzeigen.
Die Brisanz – nur gestreift
Warum aber
bringt Rocco seinem Assistenten, bevor sie zu Florestan
heruntersteigen, einen Kanister mit, vermutlich, Salzsäure? Hat
er am Ende längst gemeinsame Sache gemacht mit Fidelio? Es ist
jedenfalls dieses Gebräu, mit dem Leonore im entscheidenden
Moment den grausamen Pizarro zur Strecke bringt – und da ist
einer der Momente, da die Produktion ein wenig mit der Brisanz
des Werks bekannt macht: dank Anja Kampe, die als
Fidelio/Leonore nicht nur ihre Arien blendend meistert, sondern
auch dem etwas gestressten Pizarro von Wolfgang Koch sehr
aufrecht gegenübertritt. Das Glanzlicht des Abends
bildet indes Jonas Kaufmann als Florestan, der «Gott», das erste
Wort seiner Auftrittsarie, auf dem hohen G in wunderbarem Piano
ansetzt und unter einer eigenwilligen Fermate zu einem
gewaltigen Aufschrei steigert. Der aus München stammende Tenor
mit seiner eigenartig in der Tiefe verankerten Stimme hat hier
einen grossen Auftritt. Nicht nur bei dieser geradezu idealen
Auslegung der heimlichen Titelrolle denkt man an die
halbszenische Aufführung anlässlich der Eröffnung des Lucerne
Festival im Sommer 2010 zurück. Sie stand ganz und gar im
Zeichen der Musik.