(München, 21. Dezember 2010) Ein einziger Ton und alles
ist anders an diesem Abend. Wenn Jonas Kaufmann als Florestan
sein "Gott" zu Beginn des zweiten Teils aus der Tiefe des
Herzens und der Unhörbarkeit heraus ins leuchtende Fortissimo
steigert, bekommt man bei der Premiere von Beethovens "Fidelio"
in der Bayerischen Staatsoper das erste Mal eine Gänsehaut.
Kaufmann ist es, der mit der Wandelbarkeit und Ausdruckskraft
seines ebenso kernigen, in der Höhe strahlenden und im Piano der
Mittellage und der Tiefe wunderbar verschatteten Tenors, vor
allem aber auch durch sein faszinierendes Spiel den Abend zum
Ereignis werden lässt.
Wie er traumatisiert nach seiner Arie
zusammengekauert den Kopf mehrfach auf den Boden schlägt; wie er
sich widerstrebend an Beinen oder den gefesselten Armen immer
wieder singend über die Bühne zerren lässt; wie er sich
zwanghaft wie ein Tier, das sich putzt, die Haare hektisch aus
dem Gesicht kämmt; wie er am Ende scheinbar leblos
zusammenbricht, als ein Schuss fällt - all das ist große
Sing-Schauspiel-Kunst.
Im zweiten Akt läuft auch
die anfangs wenig inspirierte Regie von Calixto Bieito, der den
musikdramaturgisch problematischen ersten Akt nicht wirklich in
den Griff bekam, zu Hochform auf: Rocco ist hier kein Gutmensch,
der Florestan seine letzten Stunden erleichtern will. Vielmehr
ist er drauf und dran, ihn umzubringen, nachdem er ihm statt des
ersehnten Wassers fast mit Hochprozentigem zum Ersticken
gebracht hat. Leonore ist die einzige, die noch Menschlichkeit
zeigt, aber auch verzweifelten Mut: Dann schlägt sie Pizarro mit
der Schnapsflasche k.o. und schüttet ihm Säure ins Gesicht. Anja
Kampes "Töt' erst sein Weib!" ist markerschütternder,
existentieller Schrei und die "Namenlose Freude" Irritation -
während Leonore im blauen Kleid wieder zur Frau wird, sie im
Gegenzug Florestan mit ihren Männerkleidern ausstattet.
Der freilich trägt bis zum Ende seinen abgestreiften hellblauen
Häftlingsschlafanzug wie einen Schutz vor sich, ähnlich Jaquino,
der seine Kleider im ersten Akt immer halbnackt an seinen
Oberkörper presst.
Verzweifelte Herstellung von
Normalität signalisiert dieser Kleidertausch, deren Brüchigkeit
deutlich wird, wenn Florestan und Leonore ohne Kommunikation mit
leerem Blick nebeneinander zusammensinken, während sich Käfige
vom Schnürboden senken. In ihnen spielen vier Streicher
Beethovens "Heiligen Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit"
aus opus 132. Das ist ein ebenso schmerzvolles wie tröstliches
und intimes Innehalten, bevor Bieto mit dem Auftritt des
Ministers in der Proszeniumsloge einen letzten Coup landet. Denn
Steven Humes ist Heath Ledger als teuflischer Joker aus "The
Dark Night" täuschend ähnlich! Wenn dann ein Schuss gellt (mit
dem Pizarro niedergestreckt wird) fällt auch Florestan, der
glaubt, der Schuss gelte ihm, just vor des Ministers "Euch, edle
Frau ziemt es, ganz ihn zu befrei'n" und Leonores leiser Antwort
"O Gott! Welch ein Augenblick!" Ambivalenter und richtiger kann
man das nicht inszenieren. Auch das einzige der leeren weißen
Schilder der Choristen, worauf der Minister FREI geschrieben und
es Florestan umgehängt hat (der es dann stolz herumzeigt),
hinterlässt zum affirmativen Jubel des "Wer ein holdes Weib
errungen" einen bitteren Nachgeschmack.
Schade, dass
Bieto den ganzen ersten Akt nicht auf der Höhe dieses zweiten
und des aufregenden Beginns bleibt. Denn zur dritten
Leonoren-Ouvertüre, die statt der Fidelio-Ouvertüre gespielt
wird, klettern Gefangene, Florestan eingeschlossen, verzweifelt
durch ein Plexisglas-Labyrinth (die spektakuläre Konstruktion
stammt von Rebecca Ringst). Permanent stört, dass alle
Protagonisten, die auf den verschiedenen Ebenen des
Gefängnislabyrinths singend hin- und herklettern, sich immer
wieder mit Stahldrähten an den querlaufenden Seilen aus Metall
per Karabinerhaken anleinen, wohl weniger zur Sicherung als um
die prekäre Verbindung mit dem Labyrinth zu symbolisieren. Dabei
erzeugen die knappen Zwischentexte von Jorge Luis Borges und
Cormac McCarthy, die die Figuren statt der Dialoge sprechen, von
Anfang an ein Klima der Angst, das der Oper glücklicherweise
alles Singspiel-Tändeln nimmt und so direkt das große Quartett
"Mir ist so wunderbar" ansteuern lässt.
Der (Männer-)Chor
der Bayerischen Staatsoper singt einen verhaltenen, überaus
bewegenden Gefangenenchor (Dean Power und Tareq Nazmi sind dabei
prägnante Solisten) und ein strahlendes Finale. Laura Tatulescu
und Jussi Mylls besitzen als Marzelline bzw. Jacquino die
passenden leichten Stimmen, Franz-Josef Selig ist ein
intensiver, verdruckster Rocco, während Wolfgang Koch gerade
durch seine stimmliche Normalität einen gefährlichen Pizarro
darstellt, der am Ende schier wahnsinnig wird vor Hass. Für Anja
Kampe ist die Partie der aufoperungsbereiten Leonore eine
ideale, auch wenn ihr schlanker, aber durchschlagskräftiger
Sopran am Premierenabend nicht optimal disponiert schien.
Daniele Gatti kann der szenischen Indifferenz des ersten
Akts wenig entgegenhalten, gar Bühne und Graben manchmal nur mit
Not zusammenhalten. Nach der Pause, wenn sich das Labyrinth
teilt, eine Hälfte nach hinten fährt, die andere langsam kippt,
während von oben rätselhafte Menschen auf ihm herumklettern und
zu schweben beginnen, im Verlauf des zweiten Akts, werden Gatti
und das Staatsorchester vom Geschehen auf der Bühne trotz
teilweise sehr ruhiger Tempi angespornt. Aber eine mitreißende,
im Detail wie im Ganzen aufregende, spannungsgeladene
Interpetation von Beethovens heikler einziger Oper will sich
daraus nur momentweise ergeben. Doch das leisten am Ende
Inszenierung wie Sänger umso intensiver.