Calixto Bieito, der katalanische Opernschreck, im Münchner
Nationaltheater - kann das gut gehen? Und ob! Selbst wenn bei
der Premiere vorgebliche Bildungsbürger im Zuschauerraum zu
Beginn des 2. Akts pöbelhaft in die Szenerie hineinblökten und
es am Ende die obligatorischen Buhrufe für den Regisseur gab:
Seine "Fidelio"-Inszenierung ist brillant, erschütternd,
überraschend und bedenkenswert, ist große Musiktheaterkunst.
Alle Solisten sind erstklassig
Was
natürlich auch damit zu tun hat, dass diese Produktion schon von
den Solisten her erstklassig besetzt ist - und zwar von den
Hauptfiguren bis hin zu den kleinen Nebenrollen. Wann sonst
schaut man schon nach, wer den 1. und 2. Gefangenen gesungen
hat? Die Namen von Dean Power und Tarek Nazmi, zwei Mitgliedern
des Opernstudios der Bayerischen Staatsoper, darf man sich
jedenfalls merken. Gleiches gilt für das vermeintliche, in jeder
Hinsicht bewegliche Buffopaar mit Laura Tatulescu als Marzelline
und Jussi Myllys als Jaquino sowie für Steven Humes, der als Don
Fernando auftrumpft wie Heath Ledgers Joker in "The Dark
Knight". Einen Psychopathen der direkteren Art stellt Wolfgang
Koch als Don Pizarro mit sängerdarstellerischer Wucht auf die
Bühne, Franz-Josef Seligs zurückgenommener, aber ebenso
prägnanter Rocco zeigt, wie auch ein kleines, auf Korrektheit
bedachtes Rädchen sich die Hände schmutzig macht.
Die Maschinerie, in die Florestan (überragend: Jonas
Kaufmann) und seine Frau Leonore (fast ebenbürtig: Anja
Kampe) geraten sind, ist kein herkömmliches Gefängnis. Denn
statt in einem Unrechtsstaat lässt Calixto Bieito Beethovens
Freiheitsoper in einem futuristisch anmutenden Labyrinth
spielen, das Rebecca Ringst mit technischem Aplomb ausgestattet
hat. Es geht hier um eine etwas andere Freiheit - um die
Freiheit von Gedanken und Gefühlen, es geht darum, dass auch das
Unterbewusstsein, die menschliche Psyche ein Kerker sein kann.
Nur weil der Regisseur, anders als viele befürchteten, sich
Bilder à la Abu Ghraib oder Guantánamo verkniffen hat, ist das
noch lange nicht unpolitisch. Im Gegenteil: "Die mentalen
Gefängnisse", sagte er vorab, "sind in unserer Gesellschaft von
größerer Relevanz als die realen Gefängnisse einer Diktatur."
Selbst die Liebe ist brüchig
Also ist in
seiner Inszenierung jeder hauptsächlich mit sich selber
beschäftigt, beachtet den anderen nicht, redet und hört nicht
mehr zu. Nur Leonore, die sich als Mann verkleidet aufmacht, um
ihren Gatten zu retten, scheint unerschütterlich an die Liebe zu
glauben. Erst als Florestan sich zunächst verweigert, blickt
auch sie hoffnungslos ins Leere. Es gibt zwar den Schlussjubel,
aber indem Florestan sich nach wie vor an seinen hellblauen
Schlafanzug (Kostüme: Ingo Krügler) klammert, wird klar, wie
brüchig alles ist.
Es ist ein Abgrund, in den diese
"Fidelio"-Interpretation uns schauen lässt - schon deshalb, weil
hier alle Gefangene sind, auch und gerade die Nicht-Gefangenen.
Die eingefügten Texte von Jorge Luis Borges und Cormac McCarthy
wirken nicht aufgepfropft, sondern verdichten die Atmosphäre der
Ausweglosigkeit. Und dennoch ist diese Szenerie voller Poesie,
weil einige starke, von Tänzern kunstvoll bewegte Bilder, weil
der Gesang und die Musik konkret von der Utopie sprechen, mit
jemandem davonzufliegen.
Kein Held, aber ein
Glücksfall
Jonas Kaufmann ist auch als
Florestan ein Glücksfall. Darstellerisch kein Held, sondern ein
heillos gebrochener Mann, setzt er mit seinen berückenden
stimmdynamischen Ausdrucksfinessen unerhörte Akzente: ein Tenor
mit viel Strahlkraft, Farbe und Glanz, der endlich den Fokus
auch auf die vielsagenden leisen, delikaten Stellen legt.
Dass Anja Kampes Leonore bei der Premiere ein paar
Spitzentöne nicht ganz bewältigte, schmälert ihre Leistung
nicht. Sie ist eine der wenigen jungen Sängerinnen, die dem
hochdramatischen Fach gewachsen scheint.
Apropos:
Dirigent Daniele Gatti setzte leider viel zu oft Dramatik mit
Lautstärke gleich, was weder der Ouvertüre Leonore III zu Beginn
noch der "Fidelio"-Fassung von 1814, auf der die Produktion
basiert, noch den von Sören Eckhoff einstudierten Chören immer
gut bekam. Und so blieb am Dienstag instrumental der stärkste
Eindruck dem Odeon-Quartett vorbehalten, das in Gitterkästen
herunterschwebend vor dem Finale II geradezu traumhaft schön
Beethovens spätes Streichquartett op. 132 a-moll musizierte.