Es waren dann doch viel weniger Buhs, als die sensationslüsterne
Öffentlichkeit erwartet hatte, bei dieser ersten Arbeit des
katalanischen Skandalregisseurs an der Bayerischen Staatsoper. Und
sie galten vor allem dem Dirigenten. Um es vorweg zu nehmen: der
Abend in München erfüllte die Erwartungen in keiner Weise. Weder
kamen diejenigen auf ihre Kosten, die den Theaterskandal zum
Lakmustest für die Lebendigkeit der Oper erheben; noch die Liebhaber
großen musikalischen Opernglücks. Über weite Strecken herrschte pure
Langeweile und Sänger, Dirigent und Orchester befanden sich, bis auf
wenige, allerdings herausragende Ausnahmen, auf dem Niveau einer
anständigen Provinzbühne.
Beethovens einzige Oper Fidelio hat
eine lange und komplizierte Entstehungsgeschichte. Die erste
Fassung, in dreiaktiger Form, erlebte ihre Uraufführung am 20.
November 1805, die zweite, aus zwei Akten bestehend, wurde am 29.
März 1806 das erste Mal gespielt. Im Frühjahr 1814 komponierte
Beethoven große Stücke neu, ebenso die Ouvertüre in E-Dur. Seit Otto
Nicolais Wiener Aufführung (1841) wurde die dritte
Leonoren-Ouvertüre häufig vor dem 2. Akt gespielt; bis Gustav Mahler
sie am 7. Oktober 1904 vor das Schlussbild platzierte.
Mit
dieser Tradition bricht nun das Münchner Team. Zu Beginn erklingt
die dritte Leonoren-Ouvertüre und an ihrer Stelle hat man eine
gekürzte Version des „Molto adagio“ aus Beethovens Streichquartett
op. 132 eingefügt. Man spielt auf der Basis der Fassung von 1814 mit
eingefügten Texten von Jorge Luis Borges und Cormac McCarthy. So
weit, so schön. Was aber macht Bieito aus dieser berühmten deutschen
Freiheits- und Eheoper? Deutet er Beethoven intellektuell
phantasievoll? Oder wird die angebotene Lösung dem Stück nicht
gerecht, weil sie bloß eine bunt glitzernde Fassade liefert, wie
Reinhard J. Brembeck in seinem bemerkenswerten Artikel über
zeitgenössisches Regietheater kritisch anmerkt?
Bieitos
Konzept ist schlüssig. Das Eingeschlossensein der handelnden
Personen ist für ihn nicht so sehr ein Problem der politischen
Unterdrückung. Die Welt, wie der Katalane sie sieht, ist eine
hermetische. Überzeugend realisiert dies das Bühnenbild von Rebecca
Ringst, wenn sie die Beteiligten in einem überdimensionalen
Stahlkorsett agieren lässt, durch dessen leuchtende Gänge sie wie
aufgeschreckte Hamster irren. Die Bedrohung kommt nicht von Außen,
sie steckt bereits im Kopf.
Dieser Idee muss aber alles
geopfert erden, was im Stück auf realen Gegebenheiten basiert.
Bieito entpolitisiert das Werk und nimmt ihm die zwischenmenschliche
Dimension. Er wünscht sich eine Kammeroper des Grauens. Auf der
Strecke bleiben die Gefühle und Motive der Beziehungspaare. Da
knistert nichts zwischen Fidelio und Marzelline; Jaquino gibt den
dümmlichen Stalker, und warum Leonore ihren gefangenen Gatten
befreit, spielt eine untergeordnete Rolle. Die Inszenierung stört
nicht, aber sie wird der großen musikdramatischen Leistung
Beethovens nicht im Ansatz gerecht.
Leider hat auch Daniele
Gatti seine Schwierigkeiten mit der musikalischen Umsetzung diese
Espressivo-Werkes. Das beginnt schon mit der vierzehnminütigen
Ouvertüre, die der Dirigent mit zu viel Rubato verniedlicht. Auch im
weiteren Verlauf des Abend bleibt es bieder. Gatti glättet, wo
schroffe Gegensätze Stellungnahmen erfordern. Bei der großen
Leonoren Arie „Abscheulicher! Wo eilst du hin?“ schreibt der
Komponist „Allegro agitato“ vor, nimmt dies zurück und steigert
immer wieder, um die Zerrissenheit Leonores deutlich zu machen. Das
klang in München doch alles sehr brav, und auch dem Sopran der Anja
Kampa fehlte die wilde Entschlossenheit in den anspruchsvollen
Spitzenlagen. Laura Tatulsecu (Marzelline) und Jussi Myllys
(Jaquino) arbeiteten sich tapfer durch ihre Partien; Wolfgang Koch
fehlte die dämonische Schwärze seines Pizarro. Allein Franz-Josef
Seligs Rocco gelang es, die vertraute Singspielatmosphäre zart
anklingen zu lassen.
Und dann das Licht im Dunkel.
Jonas Kaufmann ließ Ort und Zeit vergessen. Er stellte sich den
enormen Herausforderungen seiner Florestan-Partie und überwältigte
emotional und intellektuell. Sein Verzweiflungsschrei „Gott! welch’
Dunkel hier!“ dauert ein unendlich langes Crescendo und sein
baritonal gefärbter Tenor verleiht dem gequälten Opfer existentielle
Realität.Zu einem weiteren Lichtblick zählte wieder
einmal der Chor der Bayerischen Staatsoper, der mit Präzision und
Einfühlungsvermögen sang; positiv erwähnt seien zuletzt Dean Power
(1. Gefangener) und Tareq Nazmi (2. Gefangener), die man in Zukunft
in München gerne öfter hören möchte.