Schon bei der Ankunft in Zürich wird man am Ende des Bahnsteigs
mit dem „Eros“-Logo des diesjährigen Lucerne Festivals konfrontiert. Ob
freilich „Eros“ und „Fidelio“ zusammengehen, konnte auch Nike Wagner in
ihrem Festival-Eröffnungsvortrag nicht restlos klären. Darüber jedoch, dass
man mit der semikonzertanten Aufführung von Beethovens Oper im Luzerner
Kultur- und Kongresszentrum einem musikalischen Ereignis beigewohnt hatte,
gab es nach dem Eröffnungsabend keinen Zweifel.
Claudio Abbado leitete die Aufführung eines Werks, mit dem ihn mehr als nur
die genaue Kenntnis der Noten verbindet. Er dirigieren das Gustav Mahler
Chamber Orchestra und das Lucerne Festival Orchestra, beides seine
Gründungen. Und anders als vor ein paar Jahren in Reggio Emilia stand ihm
diesmal ein ausgewogenes Sängerensemble zur Verfügung, das von Jonas
Kaufmann in der Rolle des Florestan angeführt wurde.
Dass „Fidelio“ ein Werk ist, das im Sinne der traditionellen Operndramatik
als problematisch gelten darf, hat seine Rezeptionsgeschichte von Anfang an
begleitet. Bei einer konzertanten Aufführung jedoch, die im Luzerner Fall
von Tatjana Gürbaca mit (auf kurze Frist entwickelten) kleinen szenischen
Arrangements und Lichteffekten und neuen Prosatexten versehen wurde, gelten
andere Gesetze. Sie bringen das der Oper zugrunde liegende Prinzip klarer
als auf der Bühne zur Anschauung. „Fidelio“ – das ist absolute,
„symphonische“ Musik mit obligaten Stimmen. Nicht das Ariose gibt dem Werk
sein Gepräge, sondern das Liedhafte und weit ausholend Rezitativische.
Wo beginnt denn, genau besehen, in Florestans großer Szene zu Anfang des 2.
Akts die Arie, wo hört das Rezitativ auf? Abbado macht das Falsche solcher
schematischen Unterteilung hörbar. Er muss in Luzern keine vom
Bühnengeschehen diktierten Tempi ansteuern, sondern folgt dem symphonischen
Fluss der Musik, stellt die orchestrale Struktur in den Mittelpunkt.
Im Grunde ist die ganze Oper eine einzige große Kantate, bei der im ersten
Teil die volkstümlichen Melodien im Vordergrund stehen, ehe der Komponist
selbst in der letzten Szene mit dem musikalischen Rückgriff auf eine
Jugendkantate auf Kaiser Josef II. einen nicht zu überhörenden Hinweis auf
seine Intentionen gibt.
Wo andere schleppen, bevorzugt Abbado flüssige Tempi; und wo sie eilen,
bremst er das opernhafte Temperament. Immer ist er auf maximale Transparenz
aus, setzt klare orchestrale Akzente und Impulse. Geschwollenes Vibrato
kommt bei ihm nie auf. Und keine Note wird am Ende einer Phrase länger
gehalten, als sie sein soll.
Kein Pathos darf sich zeigen. Selbst Pizzaros Rachegelüste sind symphonisch
gezügelt. Dafür beginnt die Einleitung zum Gefangenenchor im allerleisesten
Pianissimo. Und was Abbado am Beginn der Kerkerszene im Orchester hörbar
macht, lässt jedes Bühnenbild verblassen.
Auch die Befreiung ist ja im „Fidelio“ keine Angelegenheit der Szene,
sondern im Orchester mit jenem Trompetensignal artikuliert, das einst dem
Philosophen Ernst Bloch die Tränen in die Augen trieb, wenn er es von der
Schallplatte hörte. Da ist nicht einmal ein Anflug von Opern-Dramatizität
vorkomponiert, das ist eher Teil einer Befreiungssymphonie. Die Stimmen,
die man dafür braucht, waren sorgfältig ausgewählt: Jonas Kaufmanns noch
nicht von heldentenoralen Ausflügen angegriffene Stimme ist für den
Florestan schlichtweg ideal. Allein, wie er das erste „Gott, welch Dunkel
hier!“ aus dem Pianissimo-Nichts zum Forte heranstrahlen lässt, rechtfertigt
solches Lob. Christof Fischessers Rocco besitzt eine Leichtigkeit, die
ihn eher als Vorläufer des wagnerschen Daland als der orgelnden Bässe
erscheinen lässt. Falk Struckmanns Don Pizarro braucht kein Bühnenkostüm, um
gefährlich zu wirken, und in Peter Mattei ist ein Don Fernando ohne falsche
salbungsvolle Untertöne gefunden.
Nina Stemme wirkte als Leonore angestrengt. Marzelline (Rachel Harnisch) und
Christoph Strehl (Jaquino) trugen die Lasten des „leichten“ Paars ohne
besonderen Glanz. Umso mehr fiel – wieder einmal – der Wiener Arnold
Schoenberg Chor auf, der sich wunderbar in Abbados Konzept fügte.
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