Neue Luzerner Zeitung, 13.8.2010
Urs Mattenberger
Beethoven: Fidelio, Luzern, 12. August 2010
Eröffnung mit einem Theatercoup
 
Lucerne Festival: Eröffnungskonzert
So viel Theater war noch nie im Konzertsaal: Claudio Abbado fegte mit Beethovens «Fidelio» selbst Nike Wagners «Eros Center Musik» hinweg.
 

So hat man den Konzertsaal des KKL Luzern noch nie erlebt. Als im gestrigen Eröffnungskonzert des Lucerne Festival die Gefangenen zurück in die Kerkerverliese gehen, versinkt der ganze Bühnenbereich in absolute Dunkelheit. Zurück bleibt nur noch ein Lichtermeer von Mahnkerzen, wie man sie von Gedenk- und Opferstellen kennt. Die Idee des fensterlos eingekellerten Konzertsaals, die Regisseurin Tatjana Gürbaca und Bühnenbildner Stefan Heyne für Beethovens Fidelio vorschwebte (vgl. Ausgabe von gestern), wird hier zum überrumpelnden Erlebnis.

Bilder stark wie Plakate

Dann, nach dem Abstieg zum Gefangenen Florestan, am Schluss des zweiten Akts, die Befreiung: Die Sonnenkugel über dem Orchester erstrahlt - endlich! - in gleissendem Licht und bringt alles ganz nah heran: Das Gesicht des Sitznachbars ebenso wie den Chor und die Protagonisten auf der Bühne, die die Befreiung von aller Tyrannei feiern.

Gürbaca und Heyne setzen damit auf plakative Gesten. Das funktioniert prächtig, auch in den Chorszenen. Wo die Gefangenen wie Gestrandete am Bühnenrand um das Orchester lagern, denkt man an Lager in Katastrophengebieten. Das Thema der Tyrannei und ihrer Opfer bekommt gespenstische Aktualität.

Dieser «Fidelio» ist damit die bislang stimmigste szenische Opernproduktion im Konzertsaal. Sie macht aber auch die Grenzen eines solchen Experiments deutlich: Die Umwandlung der Dialogszenen in handlungsfreie Monologe übertreibt das oratorische Konzept, wenn die Sänger ihre Texte wie von Rednerpulten ablesen. Zudem sorgen die gipsfarbenen Saalwände über weite Strecken für eine kühle Atmosphäre.

Ein Ereignisse ohne Abstriche ist die Musik: Claudio Abbado dirigiert das Lucerne Festival Orchestra, das bisher vor allem mit grosssinfonischen Werken auftrat, in reduzierter Besetzung (im Wesentlichen das Mahler Chamber Orchestra). Das ergibt eine griffigen, akzentfreudigen Klang und eine Klangpalette, die Vorzüge historischer Aufführungspraxis mit Abbados frei atmender Dirigiermagie verbindet - bis hin zum überwältigenden Jubelgetümmel des Schlusses.

Verschwenderische Stimmerotik

Zuvor hatte Nike Wagner in ihrem pointierten Eröffnungsvortrag über das «Eros Center Musik» behauptet, Musik vermittle Erotik am unverschlüsseltsten - und zwar über das «körpereigene Material» der Stimme. Den Beweis dafür bot das Konzert mit einem hochkarätigen Sängerensemble (u. a. Rachel Harnisch als blühende Marzelline), in dem sich der Sopran von Nina Stemme und der Tenor von Jonas Kaufmann zu verschwenderischem Wohlklang verbanden.

Zu Ende ist der Abend aber erst, wenn man Luzerns «Piazza Grande» verlässt, wie Bundesrat Burkhalter, vom Filmfestival Locarno zurück, in seinem Grusswort das KKL titulierte. Da wird einem bewusst, dass die Gesichter auf der Wand, die hier installiert ist, zu den Mänteln gehören, die die Bühne wie ein KZ-Lager zudecken. Oder zu all den Menschen, die verschwunden sind. Ein bewegender Abend bis zum Schluss.


 






 
 
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