Eros hat eben viele Gesichter. Im Zusammenhang mit der Musik
denkt man, kommt die Rede auf den Gott der Liebe, wohl eher an Wagners
«Tristan» als an «Fidelio»; denn was das Erotische betrifft, ist die Oper
Ludwig van Beethovens doch eher ein Ablöscher. Man mag in der verzweifelten
Arie Florestans zu Beginn des zweiten Akts nicht nur das Aufbäumen des
Häftlings angesichts seiner katastrophalen Lage hören, sondern auch einen
Sehnsuchtsruf nach der liebenden Gattin. Dennoch ist hier all das, was den
bisweilen fatal unwiderstehlichen Duft zwischen Mann und Frau ausmacht, auf
das Sublimste sublimiert; es geht um Ehre und Ehe, Leid und Erlösung, um die
abweichende Meinung und deren gewalttätige Unterdrückung – oder, wie nicht
Don Fernando, sondern ein anderer Minister festgestellt hat, um Liebe,
Treue, Hoffnung.
Menschen, keine Helden
Dennoch hat Eros auch in «Fidelio» seine Spur hinterlassen – in der
Aufführung der Oper Beethovens, mit der das Lucerne Festival seine
diesjährige Sommerausgabe im Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL)
eröffnet hat, kam das eindringlich zur Geltung. Claudio Abbado mag hoch in
den Jahren stehen und gesundheitlich seine Probleme haben; dass von ihm nach
wie vor ein ganz eigenes, einzigartiges, vielleicht eben doch erotisches
Fluidum ausgeht, war auch an diesem Abend wieder zu hören, zu sehen und zu
spüren. Nach wie vor beeindruckend, in welche unbekannten Gefilde der
Innigkeit dieser Dirigent die Menschen, die mit ihm Musik machen, zu bringen
vermag. Und erstaunlich, welche Folgen das für die von ihm interpretierten
Werke hat. «Fidelio» war hier jedenfalls weniger ein Monument ehelicher
Liebe und heldenhafter Treue als ein stiller Moment der Zugewandtheit und
der Menschlichkeit.
An den Pulten sassen das Mahler Chamber Orchestra, das bei den von Abbado
geleiteten Unternehmungen zu Beginn des Lucerne Festival stets mit von der
Partie ist, sowie einige, wenn auch nur wenige Mitglieder des Lucerne
Festival Orchestra – mag sein, dass sich die prominenten Solisten, die sonst
in dem Kreis rund um Abbado zusammenfinden, für das Mitspielen in einer Oper
nicht gewinnen liessen. Freundschaftliches Miteinander im Geiste der
Kammermusik herrschte gleichwohl, und so stand die Aufführung orchestral auf
denkbar hohem Niveau – trotz kleinen Unsicherheiten, auch trotz der
seltsamen Schrecksekunde nach der zweiten Trompetenfanfare, durch die sich
der deus ex machina am Ende ankündigt. Vor allem aber war neben dem von
Erwin Ortner wie stets vorbildlich einstudierten Arnold-Schönberg-Chor Wien
ein Ensemble an Vokalsolisten zusammengestellt, wie es sich stimmiger kaum
denken lässt. Das war der entscheidende Vorteil gegenüber der Produktion von
«Fidelio», die Abbado im Frühjahr 2008 im Festspielhaus Baden-Baden
dirigiert hat.
Leicht und behend, doch weder getrieben noch sonst irgendwie gezwungen, kam
die Ouvertüre daher – nicht die «Leonore Nr. 3», wie das Programmheft
irrtümlicherweise angab, sondern die gewohnte «Fidelio»-Ouvertüre. War der
Klang hier ungewohnt stark durch die Streicher bestimmt und damit warm
grundiert, so verstärkte sich das noch im eröffnenden Duett von Jaquino und
Marzelline, bei dem Christoph Strehl erfreulich geschmeidig agierte. Anders
wurde es in der Arie der Marzelline, wo sich das Bild aufhellte und die
Holzbläser pointiert konzertierend dazutraten – niemand lässt hier die
Quintlagen enthusiastischer klingen als Abbado. Vor allem war das die Stunde
von Rachel Harnisch, die mit ihrem deutlich wärmer und voller gewordenen
Timbre die Marzelline vom Rand in die Mitte des Geschehens rückte. Und schon
folgte der erste Höhepunkt: das Quartett «Mir ist so wunderbar», das Abbado
in seiner ganzen Tiefe auslotete. Unglaublich, zu welcher Schönheit die
geteilten Bratschen und Celli ohne jedes Vibrato die flächige Einleitung
trieben und wie perfekt sich die Stimmen danach Schritt für Schritt
miteinander verbanden.
Sie waren eben grandios aufeinander abgestimmt. Christof Fischesser war ein
sehr kerniger, grossartig zeichnender Rocco, der den Gefängniswächter ohne
jede Schwere mit Fundament versah. Selbst Falk Struckmann als bösartig
donnernder Pizarro hielt sich im Zaum. Ob Nina Stemme, die sonst grosse
Wagner- und Strauss-Partien singt, nicht doch zu schwer klinge für
«Fidelio», mochte man sich in der grossen Arie der Leonore fragen, bei der
die beiden Hörner und das Fagott so vital mitsprachen. An der Seite von
Jonas Kaufmann erwies sie sich jedoch als die genau richtige Wahl, denn der
Münchner Tenor bringt ebenfalls viel dunkle Färbung ein. Und das insofern
zum Vorteil, als die grosse Arie des Florestan am Anfang des zweiten Akts
für einmal kein hinausgeschleuderter Schmerzenslaut war, sondern in jedem
Moment höchststehende Kunst blieb. Als rettender Minister griff Peter
Mattei mit seinem weichen, warmen Bariton auf goldrichtiger Ebene ein.
Anteilnahme statt Pathos
So stand dieser «Fidelio» musikalisch auf jenem Niveau, das in der Oper
selten erreicht wird, das vielmehr den Vorteil der konzertanten
Aufführung bildet. Nur eben – konzertant war die Aufführung nicht, sie ist
von der jungen Regisseurin Tatjana Gürbaca zusammen mit dem Bühnenbildner
Stefan Heyne und dem Lichtdesigner Reinhard Traub halbszenisch eingerichtet
worden. Das Orchesterpodium wurde in seinem hinteren Teil zur Spielfläche,
die – akustisch nicht ganz unbedenklich – bis hin zu den Notenpulten mit
alten Uniformmänteln verkleidet war und ebenso diskret wie geschickt genutzt
wurde. Auf der ganzen Fläche, die dem Orchester diente, waren rote Kerzen
verteilt: Zeichen der Verneigung vor den Opfern der Repression. Und vor der
Orgel hing eine immense Kugel, die sich einer Sonne gleich erhellte und
verdunkelte; zum Finale in C-Dur, das hier nicht gepresst, sondern bejahend
erklang, gab sie ihr stärkstes Licht ab.
Da liegt der wesentliche Unterschied zu der szenisch missglückten
Produktion, die der Filmregisseur Chris Kraus 2008 in Baden-Baden
vorgestellt hat. Während dort der Minister ein geistlicher Würdenträger war,
der Pizarro sogleich unter die Guillotine führen liess, der Schlusschor also
einen problematischen Zug erhielt, stand die Luzerner Lösung den Intentionen
Beethovens näher. Unterstützt wird diese Deutung durch den insgesamt stillen
Duktus, der die Produktion auszeichnete. Tatjana Gürbaca hat die etwas
weitschweifigen Zwischentexte neu geschrieben, sie zu vorgelesenen Briefen,
mithin inneren Monologen gemacht (schade nur, dass der gesungene Text nicht
eingeblendet wurde und man, da der Saal dunkel blieb, nicht mitlesen
konnte). Die szenischen Interventionen waren somit weitaus mehr als Zugabe;
sie haben die musikalische Interpretation vielmehr mit ihren Mitteln
eindrucksvoll betont.
Auch diesen Sommer fing es an, bevor es anfing. Diesmal erwartete den
Besucher auf der Piazza vor dem Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL)
eine ausladende Stoffbahn, die auf zwei Seiten Hunderte von Gesichtern
zeigte, unter ihnen auch einige nicht ganz unbekannte. Im Format von
Passfotos aufgereiht, waren die Bilder in einem entscheidenden Punkt
bearbeitet: Die Augen waren allesamt ausgekratzt, die Individualitäten
gelöscht. Ein stummer Chor der Opfer von Repression und Gewalt, ein Hinweis
auf «Fidelio», die Oper Ludwig van Beethovens, erdacht von Stefan Heyne, dem
Bühnenbildner der halbszenischen Aufführung zur Eröffnung der Sommerausgabe
des Lucerne Festival, für die man wenig später den Konzertsaal betrat. Gut
gemeint, aber nicht ganz schlüssig, denn von den Abgebildeten ist gewiss
niemand Opfer dessen geworden, wovon «Fidelio» spricht.
Auch geklungen hat es. «Das Echo der Verführung» nannte Andres Bosshard eine
von ihm konzipierte Klanginstallation, die im Zeichen von Eros, dem
Ehrengast des Festivals in diesem Sommer, «Vom Singen, Flüstern und
Schweigen der Sirenen» zu künden vorgab. Zwanzig Satellitenschüsseln
horchten die Fassade und das Vordach des KKL auf klangliche Veränderungen
hin ab und gaben ihre Signale zur Umwandlung in mehr oder weniger hörbaren
Ambient Sound weiter. Dazu mischte sich Srdjan Vukasinovic mit seinem
Vierteltonakkordeon unter die Besucher. Auch das ehrenvoll in der Absicht,
recht aufwendig, aber nicht eben erheblich. (Weitere Klanginstallationen
wird es ab 3. September geben: von Jacques Demierre auf der Kapellbrücke und
von Alvin Lucier in der Kapelle zum Heiligen Geist.)
Schliesslich der Anfang selbst, die Worte zur Eröffnung. Hubert Achermann
als Präsident des Lucerne Festival begrüsste, Bundesrat Didier Burkhalter
sprach in gepflegtem Westschweizer Deutsch, aber ohne Weibel an seiner
Seite, über Treue, Liebe und Hoffnung, mithin über «Fidelio» und die
Schweizer Kulturpolitik – und dann war die Reihe an Nike Wagner, die in
ihrer Rede «Eros-Center Musik» einen grossen Bogen vom klassischen Altertum
über Gesualdo, Mozart und Wagner bis Ravel schlug.
|