NZZ, 14.8.2010
Peter Hagmann
Beethoven: Fidelio, Luzern, 12. August 2010
Gegen Gewalt, für Liebe und Menschlichkeit
 
Wie stets in den letzten Jahren gehörte das Eröffnungskonzert des Lucerne Festival im Sommer Claudio Abbado. Dieses Jahr brachte er Beethovens «Fidelio» mit. An seiner Seite besorgte Tatjana Gürbaca eine halbszenische Aufführung.
 

Eros hat eben viele Gesichter. Im Zusammenhang mit der Musik denkt man, kommt die Rede auf den Gott der Liebe, wohl eher an Wagners «Tristan» als an «Fidelio»; denn was das Erotische betrifft, ist die Oper Ludwig van Beethovens doch eher ein Ablöscher. Man mag in der verzweifelten Arie Florestans zu Beginn des zweiten Akts nicht nur das Aufbäumen des Häftlings angesichts seiner katastrophalen Lage hören, sondern auch einen Sehnsuchtsruf nach der liebenden Gattin. Dennoch ist hier all das, was den bisweilen fatal unwiderstehlichen Duft zwischen Mann und Frau ausmacht, auf das Sublimste sublimiert; es geht um Ehre und Ehe, Leid und Erlösung, um die abweichende Meinung und deren gewalttätige Unterdrückung – oder, wie nicht Don Fernando, sondern ein anderer Minister festgestellt hat, um Liebe, Treue, Hoffnung.

Menschen, keine Helden

Dennoch hat Eros auch in «Fidelio» seine Spur hinterlassen – in der Aufführung der Oper Beethovens, mit der das Lucerne Festival seine diesjährige Sommerausgabe im Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL) eröffnet hat, kam das eindringlich zur Geltung. Claudio Abbado mag hoch in den Jahren stehen und gesundheitlich seine Probleme haben; dass von ihm nach wie vor ein ganz eigenes, einzigartiges, vielleicht eben doch erotisches Fluidum ausgeht, war auch an diesem Abend wieder zu hören, zu sehen und zu spüren. Nach wie vor beeindruckend, in welche unbekannten Gefilde der Innigkeit dieser Dirigent die Menschen, die mit ihm Musik machen, zu bringen vermag. Und erstaunlich, welche Folgen das für die von ihm interpretierten Werke hat. «Fidelio» war hier jedenfalls weniger ein Monument ehelicher Liebe und heldenhafter Treue als ein stiller Moment der Zugewandtheit und der Menschlichkeit.

An den Pulten sassen das Mahler Chamber Orchestra, das bei den von Abbado geleiteten Unternehmungen zu Beginn des Lucerne Festival stets mit von der Partie ist, sowie einige, wenn auch nur wenige Mitglieder des Lucerne Festival Orchestra – mag sein, dass sich die prominenten Solisten, die sonst in dem Kreis rund um Abbado zusammenfinden, für das Mitspielen in einer Oper nicht gewinnen liessen. Freundschaftliches Miteinander im Geiste der Kammermusik herrschte gleichwohl, und so stand die Aufführung orchestral auf denkbar hohem Niveau – trotz kleinen Unsicherheiten, auch trotz der seltsamen Schrecksekunde nach der zweiten Trompetenfanfare, durch die sich der deus ex machina am Ende ankündigt. Vor allem aber war neben dem von Erwin Ortner wie stets vorbildlich einstudierten Arnold-Schönberg-Chor Wien ein Ensemble an Vokalsolisten zusammengestellt, wie es sich stimmiger kaum denken lässt. Das war der entscheidende Vorteil gegenüber der Produktion von «Fidelio», die Abbado im Frühjahr 2008 im Festspielhaus Baden-Baden dirigiert hat.

Leicht und behend, doch weder getrieben noch sonst irgendwie gezwungen, kam die Ouvertüre daher – nicht die «Leonore Nr. 3», wie das Programmheft irrtümlicherweise angab, sondern die gewohnte «Fidelio»-Ouvertüre. War der Klang hier ungewohnt stark durch die Streicher bestimmt und damit warm grundiert, so verstärkte sich das noch im eröffnenden Duett von Jaquino und Marzelline, bei dem Christoph Strehl erfreulich geschmeidig agierte. Anders wurde es in der Arie der Marzelline, wo sich das Bild aufhellte und die Holzbläser pointiert konzertierend dazutraten – niemand lässt hier die Quintlagen enthusiastischer klingen als Abbado. Vor allem war das die Stunde von Rachel Harnisch, die mit ihrem deutlich wärmer und voller gewordenen Timbre die Marzelline vom Rand in die Mitte des Geschehens rückte. Und schon folgte der erste Höhepunkt: das Quartett «Mir ist so wunderbar», das Abbado in seiner ganzen Tiefe auslotete. Unglaublich, zu welcher Schönheit die geteilten Bratschen und Celli ohne jedes Vibrato die flächige Einleitung trieben und wie perfekt sich die Stimmen danach Schritt für Schritt miteinander verbanden.

Sie waren eben grandios aufeinander abgestimmt. Christof Fischesser war ein sehr kerniger, grossartig zeichnender Rocco, der den Gefängniswächter ohne jede Schwere mit Fundament versah. Selbst Falk Struckmann als bösartig donnernder Pizarro hielt sich im Zaum. Ob Nina Stemme, die sonst grosse Wagner- und Strauss-Partien singt, nicht doch zu schwer klinge für «Fidelio», mochte man sich in der grossen Arie der Leonore fragen, bei der die beiden Hörner und das Fagott so vital mitsprachen. An der Seite von Jonas Kaufmann erwies sie sich jedoch als die genau richtige Wahl, denn der Münchner Tenor bringt ebenfalls viel dunkle Färbung ein. Und das insofern zum Vorteil, als die grosse Arie des Florestan am Anfang des zweiten Akts für einmal kein hinausgeschleuderter Schmerzenslaut war, sondern in jedem Moment höchststehende Kunst blieb. Als rettender Minister griff Peter Mattei mit seinem weichen, warmen Bariton auf goldrichtiger Ebene ein.
Anteilnahme statt Pathos

So stand dieser «Fidelio» musikalisch auf jenem Niveau, das in der Oper selten erreicht wird, das vielmehr den Vorteil der konzertanten Aufführung bildet. Nur eben – konzertant war die Aufführung nicht, sie ist von der jungen Regisseurin Tatjana Gürbaca zusammen mit dem Bühnenbildner Stefan Heyne und dem Lichtdesigner Reinhard Traub halbszenisch eingerichtet worden. Das Orchesterpodium wurde in seinem hinteren Teil zur Spielfläche, die – akustisch nicht ganz unbedenklich – bis hin zu den Notenpulten mit alten Uniformmänteln verkleidet war und ebenso diskret wie geschickt genutzt wurde. Auf der ganzen Fläche, die dem Orchester diente, waren rote Kerzen verteilt: Zeichen der Verneigung vor den Opfern der Repression. Und vor der Orgel hing eine immense Kugel, die sich einer Sonne gleich erhellte und verdunkelte; zum Finale in C-Dur, das hier nicht gepresst, sondern bejahend erklang, gab sie ihr stärkstes Licht ab.

Da liegt der wesentliche Unterschied zu der szenisch missglückten Produktion, die der Filmregisseur Chris Kraus 2008 in Baden-Baden vorgestellt hat. Während dort der Minister ein geistlicher Würdenträger war, der Pizarro sogleich unter die Guillotine führen liess, der Schlusschor also einen problematischen Zug erhielt, stand die Luzerner Lösung den Intentionen Beethovens näher. Unterstützt wird diese Deutung durch den insgesamt stillen Duktus, der die Produktion auszeichnete. Tatjana Gürbaca hat die etwas weitschweifigen Zwischentexte neu geschrieben, sie zu vorgelesenen Briefen, mithin inneren Monologen gemacht (schade nur, dass der gesungene Text nicht eingeblendet wurde und man, da der Saal dunkel blieb, nicht mitlesen konnte). Die szenischen Interventionen waren somit weitaus mehr als Zugabe; sie haben die musikalische Interpretation vielmehr mit ihren Mitteln eindrucksvoll betont.

Auch diesen Sommer fing es an, bevor es anfing. Diesmal erwartete den Besucher auf der Piazza vor dem Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL) eine ausladende Stoffbahn, die auf zwei Seiten Hunderte von Gesichtern zeigte, unter ihnen auch einige nicht ganz unbekannte. Im Format von Passfotos aufgereiht, waren die Bilder in einem entscheidenden Punkt bearbeitet: Die Augen waren allesamt ausgekratzt, die Individualitäten gelöscht. Ein stummer Chor der Opfer von Repression und Gewalt, ein Hinweis auf «Fidelio», die Oper Ludwig van Beethovens, erdacht von Stefan Heyne, dem Bühnenbildner der halbszenischen Aufführung zur Eröffnung der Sommerausgabe des Lucerne Festival, für die man wenig später den Konzertsaal betrat. Gut gemeint, aber nicht ganz schlüssig, denn von den Abgebildeten ist gewiss niemand Opfer dessen geworden, wovon «Fidelio» spricht.

Auch geklungen hat es. «Das Echo der Verführung» nannte Andres Bosshard eine von ihm konzipierte Klanginstallation, die im Zeichen von Eros, dem Ehrengast des Festivals in diesem Sommer, «Vom Singen, Flüstern und Schweigen der Sirenen» zu künden vorgab. Zwanzig Satellitenschüsseln horchten die Fassade und das Vordach des KKL auf klangliche Veränderungen hin ab und gaben ihre Signale zur Umwandlung in mehr oder weniger hörbaren Ambient Sound weiter. Dazu mischte sich Srdjan Vukasinovic mit seinem Vierteltonakkordeon unter die Besucher. Auch das ehrenvoll in der Absicht, recht aufwendig, aber nicht eben erheblich. (Weitere Klanginstallationen wird es ab 3. September geben: von Jacques Demierre auf der Kapellbrücke und von Alvin Lucier in der Kapelle zum Heiligen Geist.)

Schliesslich der Anfang selbst, die Worte zur Eröffnung. Hubert Achermann als Präsident des Lucerne Festival begrüsste, Bundesrat Didier Burkhalter sprach in gepflegtem Westschweizer Deutsch, aber ohne Weibel an seiner Seite, über Treue, Liebe und Hoffnung, mithin über «Fidelio» und die Schweizer Kulturpolitik – und dann war die Reihe an Nike Wagner, die in ihrer Rede «Eros-Center Musik» einen grossen Bogen vom klassischen Altertum über Gesualdo, Mozart und Wagner bis Ravel schlug.



 






 
 
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