Wann und wo hat je einer so flehentlich Gott angerufen? Wenn
Startenor Jonas Kaufmann, soeben noch als balsamischer Lohengrin in Bayreuth
umjubelt, den ersten Ton seiner großen Kerkerszene auf einem Atemzug
crescendiert, wird einem schwindlig. Gefühlte fünf Minuten hält er diesen
Ton, meistert er eine der gefürchtetsten Partien seines Fachs.
Endlich hat Claudio Abbado seinen Wunsch-Florestan für seinen „Fidelio“
gewinnen können. Beethovens Hohelied auf die Gattenliebe eröffnete das
Lucerne Festival, für das der altersweise Abbado eine feste Größe darstellt
wie Christian Thielemann für Bayreuth.
Schon vor zwei Jahren brachte er Beethovens utopisch ausgreifende
Freiheitsoper mit dem Mahler Chamber Orchestra in Reggio Emilia und
Baden-Baden in einer szenischen Einstudierung (Chris Kraus) auf die Bühne.
Schon diese Produktion war bestimmt von jugendlicher Frische, Vitalität,
aber auch dramatischem Ernst.
Inzwischen wurde noch mehr am klanglichen Farbenreichtum gefeilt, allem
voran der finale Freudentaumel bricht sich – ohne eine ihm misstrauende,
konterkarierende Regie – noch überschwänglicher Bahn denn je. Zwar hat
Abbado das Orchester gewechselt, eines festen Grundstocks aber hat er sich
versichert. Schließlich finden sich im luxuriösen Lucerne Festival Orchestra
neben hochkarätigen Solisten auch viele Musiker des Mahler Chamber
Orchestras. Auch mit dem blendend disponierten Wiener Arnold-Schoenberg-Chor
gibt es ein Wiedersehen.
Kaufmann gelingt der Kraftakt mühelos
Der einzige Schwachpunkt der Koproduktion von 2008, eine unzureichende
Besetzung des Gattenpaares Florestan und Leonore, ist auch behoben. Jonas
Kaufmann, der nur mit seinen vielen Reisen von einem Festival zum nächsten
die Sorge nährt, sich zu sehr zu verausgaben, und Nina Stemme bewältigen die
ihnen abverlangten Kraftakte mühelos.
Von einem semiszenischen Arrangement eine ausgefeilte Personenregie zu
erwarten, wäre eine Überschätzung der Möglichkeiten. Aber man hat selbst in
konzertanten Aufführungen schon mehr Aktion auf dem Podium erlebt als in
dieser sehr statischen Einrichtung von Tatjana Gürbaca. Die Berlinerin
dekoriert die Bühne symbolträchtig mit einem Lichtermeer von Kerzen und
grauen Gefängnisjacken. Eine Konzeption, die entbehrlich ist, zumal das
Ensemble die von der Regisseurin bearbeiteten Zwischentexte nicht auswendig
beherrscht.
Für die Zukunft aber verspricht das sich dem Musiktheater verstärkt öffnende
Luzern Einiges: Voraussichtlich ab 2012 wird das Festival über einen
modernsten Musiktheateransprüchen gerecht werdenden „Salle Modulable“
verfügen, in dem sich Zuschauertribünen und Bühnenelemente individuell
gestalten lassen. Besonders für zeitgenössische Komponisten eröffnen sich
damit nie da gewesene Möglichkeiten.
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