Opernwelt, August 2009
Wolfgang Schreiber
Wagner: Lohengrin, München, 5. Juli 2009
Glanz und Elend eines Bauherrn
 
Under construction oder: Die Münchner Opernfestspiele mit «Lohengrin» und «Trouble in Tahiti» unter Kent Nagano
Foto: Karl Forster

München hat eine neue Opernformel: Under construction. Staatsopernintendant Nikolaus Bachler gab für seine ersten Festspiele eine Devise aus, die bis in die neue «Lohengrin»-Inszenierung hinüberschwappte. Sie will nach Auskunft des Hauses die schlichte Tatsache als Idee verbreiten, «dass die Kunstform Oper beständig dem Wandel unterworfen ist und immer neu befragt werden muss, also ihrem Wesen nach mit jeder Inszenierung, jeder Aufführung <under construction> ist». Ein eigens errichtetes Zelt auf dem Marstallplatz direkt hinter dem Staatsoperngebäude war zehn Tage lang der Ort für, wie es offiziell hieß, «eine Vielzahl diskursiver und performativer Veranstaltungen».

Bachlers Ehrgeiz ist auch bei seinen ersten Opernfestspielen ersichtlich: Ein Festival als Großevent soll es sein, womit der ehemalige Wiener Burgtheaterchef mit den umliegenden Luxusfestivals zumindest in der Ausstrahlung gleichziehen möchte. Zum ersten Mal wurde eine Festspielpremiere live auf den Münchner Opernplatz übertragen, derweil im Nationaltheater die illustren Premierengäste aus Politik, Wirtschaft und Medien den gewünschten Glanz verbreiteten.

Gleich zwei Opernpremieren im Abstand von zwei Tagen bestätigten die enorme Arbeitskapazität von GMD Kent Nagano, der sozusagen doppelt am Pult stand: bei den Aufführungen des «Lohengrin» im Nationaltheater und bei Leonard Bernsteins früher Kurzoper «Trouble in Tahiti» im benachbarten RokokoCuvilliéstheater. Die fetzige Partitur seines Lehrers Bernstein hatte Nagano schon als kalifornischer Musikeleve einstudiert. Sie erklang hier als geistreiche, vom Mahler Chamber Orchestra rhythmisch gelenkig umgesetzte Kammermusik. Die Inszenierung Schorsch Kameruns auf knallfarbener Bühne (Constanze Kümmel) ergab eine schnelle, schmissige Ehekrisenhandlung zwischen Dinah (Beth Clayton) und Sam (Rod Gilfry) — das Ganze eine Operette als Satyrspiel zur romantischen Oper?

Der neue «Lohengrin» schien von Anfang an in zwei Teile zu zerfallen: musikalisch hochdifferenzierte Klangorganisation und szenische Handlungsdeutung, die zur romantisch-mythischen Werktradition quersteht. Die Regie-Erwartungen in München waren hoch: Immerhin ist dem Duo Richard Tones und Ausstatter Ultz die Kultaufführung der Ära Jonas geglückt, Händels «Giulio Cesare» als virtuose, wilde, fabelhaft amüsante Opernrevue. Aber «Lohengrin»?

«Under construction» heißt hier: Ritter vom Gral Lohengrin und Fräulein Elsa von Brabant bauen sich ein Haus, konkret: ein Einfamilienhäuschen mit allem Drum und Dran. Damit wollte das Team wohl die besondere Dramaturgie des «Lohengrin» bewältigen, der, nach Carl Dahlhaus, das «Paradox eines tragischen Märchens in der äußeren Form eines Historiendramas» darstellt. Dies Äußere nun, die bürgerliche Arbeitswelt, erscheint durchgehend im Bild — von Beginn an, wenn während des lebhaft strömenden Vorspiels auf leerer Bühne an einem Reißbrett Architekturskizzen eines Hauses gezeichnet werden. Elsa — und ab ihrem Auftritt geraten die Bilder öfters an den Rand des Banalen — will selbst Hand anlegen beim Mauern und Verfugen der Steine; im Hintergrund wird Mörtel gemischt. Sie steckt im ersten Akt in einer Arbeitslatzhose. Lohengrin tut es ihr nach, kaum ist er im blauen Shirt, den Schwan im Arm, in Brabant eingetroffen. Später erscheint Anja Harteros, die die Elsa mit ungewohnt dramatischem Impuls und strahlender Sopranhöhe ausstattet, im weißen Hochzeitskleid, während Jonas Kaufmann (als Lohengrin-Debütant mit Spannung erwartet) mit Nonchalance sein reich geschmücktes Hamburger Zimmerleutehabit trägt: Der Tenor singt leicht uneinheitlich, wirkt bisweilen angespannt, steigert sich aber erheblich: Die Gralserzählung bewältigt er in klugen Pianoabstufungen und langen Atembögen, führt die Stimme mit ihrem dunklen Timbre ins strahlend Glänzende, wobei ihn das Bayerische Staatsorchester unter Nagano in fein abgestufter, äußerst ruhiger Diskretion begleitet. Überhaupt gehört die orchestrale Klangregie der Übergänge, der Farbmischungen, zum Schönsten dieser Aufführung.

In jedem der drei Aufzüge wächst Lohengrins und Elsas Heim in die Höhe, schließlich hebt ein gewaltiger Baukran das rote Dach aufs Haus. Nur für Umbauten und die Streitfälle des feindlichen Paars senkt sich eine bühnenbreite Wand mit zwei Türen herab — Ortruds und Telramunds freudlose Welt ist dicht verrammelt. Michaela Schuster gibt der Ortrud die verschlagene Eleganz der großen Dame, ihre Stimme durchdringt mächtig, oft ausbrechend, den Raum. Wolfgang Koch, ein jähzorniger Zukurzgekommener, gestaltet rau, in den Ausbrüchen brüllend-böse den Telramund, der jederzeit gewaltbereit zu sein scheint, seine Lebenslüge nicht verkraftet. Dieses zynisch-boshafte, machtgierige Paar hat Shakespeare-Format.

Die zweigeteilte, kleinteilig realistisch-trivial gezeigte Bürgerwelt wird von Richard Jones mit gewollt krass-britischem Humor ausgearbeitet, den man ihm in der traditionsstarken Wagner-Stadt München offen verübelt. Der Heerrufer beispielsweise sitzt, ein Tennismatch-Richter auf einer Leiter, sein Haupt erscheint, wenn Evgeny Nikitin ihn mit robuster Sonorität singt, wie big brother auf zwei kleinen runden Monitoren, unter denen sich das gläubige Volk ZU ducken hat. König Heinrich ist ein beamtenhafter alerter Politiker, den Christof Fischesser kraftstrotzend bewältigt. Packend die dramatischen, von Angst, Hass und Gewalt diktierten Auseinandersetzungen im zweiten Akt. Der dritte Akt spielt im fertigen Heim, das sich Lohengrin und Elsa mit klammen Gesten neu einrichten, es fehlen nicht Doppelbett, Wiege und Kinderwagen. Die gravitätische Hochzeit hatte sie aufs Standesamt geführt, wo sie sich an einem klobigen Tisch mit Kreuz gegenüber sitzen und das Jawort geben. Als sie den Ehevertrag unterschreiben, erscheint wie aus dem Nichts ein TV-Team mit Handkamera für die Live-Übertragung. Solche verbrauchten und andere abstruse Einfälle bringen die Aufführung szenisch aus dem Lot: Gags, die das Stück desavouieren.

Für die historische «Lohengrin»-Welt hat Richard Jones ein paar triftige gesellschaftspolitische Beobachtungen parat. Bei ihm spielt das Stück in der formierten Gesellschaft: Die Chöre, das sollen apathische Menschen sein, sie stehen uniform oder schreiten akkurat geordnet, während die Staatsmacht mit paramilitärischer Security omnipräsent ist. Das Schicksal dieses Volkes ist traurig, sein Ende tödlich: Lohengrin und Elsa sind nach heißem Disput um die verbotene Frage getrennte Leute, der Ritter stellt die Wiege aufs Bett, übergießt — Loges Vorbote!— alles mit Sprit aus rotem Kanister und zündet Feuer. Der Abschied der Liebenden gerät beklommen und bewegend. Die wahren Verlierer sind die einfachen Menschen mit ihrer verlorenen Hoffnung auf den erlösenden Führer; Sie sitzen in der Finalszene desolat auf einem Feld von gräberähnlichen Bänken und legen sich nieder — ein jeder mit Pistole in der Hand. Ein Ende mit Schrecken.
 






 
 
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