München
hat eine neue Opernformel: Under construction. Staatsopernintendant Nikolaus
Bachler gab für seine ersten Festspiele eine Devise aus, die bis in die neue
«Lohengrin»-Inszenierung hinüberschwappte. Sie will nach Auskunft des Hauses
die schlichte Tatsache als Idee verbreiten, «dass die Kunstform Oper
beständig dem Wandel unterworfen ist und immer neu befragt werden muss, also
ihrem Wesen nach mit jeder Inszenierung, jeder Aufführung <under
construction> ist». Ein eigens errichtetes Zelt auf dem Marstallplatz direkt
hinter dem Staatsoperngebäude war zehn Tage lang der Ort für, wie es
offiziell hieß, «eine Vielzahl diskursiver und performativer
Veranstaltungen».
Bachlers Ehrgeiz ist auch bei seinen ersten Opernfestspielen ersichtlich:
Ein Festival als Großevent soll es sein, womit der ehemalige Wiener
Burgtheaterchef mit den umliegenden Luxusfestivals zumindest in der
Ausstrahlung gleichziehen möchte. Zum ersten Mal wurde eine
Festspielpremiere live auf den Münchner Opernplatz übertragen, derweil im
Nationaltheater die illustren Premierengäste aus Politik, Wirtschaft und
Medien den gewünschten Glanz verbreiteten.
Gleich zwei Opernpremieren im Abstand von zwei Tagen bestätigten die enorme
Arbeitskapazität von GMD Kent Nagano, der sozusagen doppelt am Pult stand:
bei den Aufführungen des «Lohengrin» im Nationaltheater und bei Leonard
Bernsteins früher Kurzoper «Trouble in Tahiti» im benachbarten
RokokoCuvilliéstheater. Die fetzige Partitur seines Lehrers Bernstein hatte
Nagano schon als kalifornischer Musikeleve einstudiert. Sie erklang hier als
geistreiche, vom Mahler Chamber Orchestra rhythmisch gelenkig umgesetzte
Kammermusik. Die Inszenierung Schorsch Kameruns auf knallfarbener Bühne
(Constanze Kümmel) ergab eine schnelle, schmissige Ehekrisenhandlung
zwischen Dinah (Beth Clayton) und Sam (Rod Gilfry) — das Ganze eine Operette
als Satyrspiel zur romantischen Oper?
Der neue «Lohengrin» schien von Anfang an in zwei Teile zu zerfallen:
musikalisch hochdifferenzierte Klangorganisation und szenische
Handlungsdeutung, die zur romantisch-mythischen Werktradition quersteht. Die
Regie-Erwartungen in München waren hoch: Immerhin ist dem Duo Richard Tones
und Ausstatter Ultz die Kultaufführung der Ära Jonas geglückt, Händels
«Giulio Cesare» als virtuose, wilde, fabelhaft amüsante Opernrevue. Aber
«Lohengrin»?
«Under construction» heißt hier: Ritter vom Gral Lohengrin und Fräulein Elsa
von Brabant bauen sich ein Haus, konkret: ein Einfamilienhäuschen mit allem
Drum und Dran. Damit wollte das Team wohl die besondere Dramaturgie des
«Lohengrin» bewältigen, der, nach Carl Dahlhaus, das «Paradox eines
tragischen Märchens in der äußeren Form eines Historiendramas» darstellt.
Dies Äußere nun, die bürgerliche Arbeitswelt, erscheint durchgehend im Bild
— von Beginn an, wenn während des lebhaft strömenden Vorspiels auf leerer
Bühne an einem Reißbrett Architekturskizzen eines Hauses gezeichnet werden.
Elsa — und ab ihrem Auftritt geraten die Bilder öfters an den Rand des
Banalen — will selbst Hand anlegen beim Mauern und Verfugen der Steine; im
Hintergrund wird Mörtel gemischt. Sie steckt im ersten Akt in einer
Arbeitslatzhose. Lohengrin tut es ihr nach, kaum ist er im blauen Shirt, den
Schwan im Arm, in Brabant eingetroffen. Später erscheint Anja Harteros, die
die Elsa mit ungewohnt dramatischem Impuls und strahlender Sopranhöhe
ausstattet, im weißen Hochzeitskleid, während Jonas Kaufmann (als
Lohengrin-Debütant mit Spannung erwartet) mit Nonchalance sein reich
geschmücktes Hamburger Zimmerleutehabit trägt: Der Tenor singt leicht
uneinheitlich, wirkt bisweilen angespannt, steigert sich aber erheblich: Die
Gralserzählung bewältigt er in klugen Pianoabstufungen und langen Atembögen,
führt die Stimme mit ihrem dunklen Timbre ins strahlend Glänzende, wobei ihn
das Bayerische Staatsorchester unter Nagano in fein abgestufter, äußerst
ruhiger Diskretion begleitet. Überhaupt gehört die orchestrale Klangregie
der Übergänge, der Farbmischungen, zum Schönsten dieser Aufführung.
In jedem der drei Aufzüge wächst Lohengrins und Elsas Heim in die Höhe,
schließlich hebt ein gewaltiger Baukran das rote Dach aufs Haus. Nur für
Umbauten und die Streitfälle des feindlichen Paars senkt sich eine
bühnenbreite Wand mit zwei Türen herab — Ortruds und Telramunds freudlose
Welt ist dicht verrammelt. Michaela Schuster gibt der Ortrud die
verschlagene Eleganz der großen Dame, ihre Stimme durchdringt mächtig, oft
ausbrechend, den Raum. Wolfgang Koch, ein jähzorniger Zukurzgekommener,
gestaltet rau, in den Ausbrüchen brüllend-böse den Telramund, der jederzeit
gewaltbereit zu sein scheint, seine Lebenslüge nicht verkraftet. Dieses
zynisch-boshafte, machtgierige Paar hat Shakespeare-Format.
Die zweigeteilte, kleinteilig realistisch-trivial gezeigte Bürgerwelt wird
von Richard Jones mit gewollt krass-britischem Humor ausgearbeitet, den man
ihm in der traditionsstarken Wagner-Stadt München offen verübelt. Der
Heerrufer beispielsweise sitzt, ein Tennismatch-Richter auf einer Leiter,
sein Haupt erscheint, wenn Evgeny Nikitin ihn mit robuster Sonorität singt,
wie big brother auf zwei kleinen runden Monitoren, unter denen sich das
gläubige Volk ZU ducken hat. König Heinrich ist ein beamtenhafter alerter
Politiker, den Christof Fischesser kraftstrotzend bewältigt. Packend die
dramatischen, von Angst, Hass und Gewalt diktierten Auseinandersetzungen im
zweiten Akt. Der dritte Akt spielt im fertigen Heim, das sich Lohengrin und
Elsa mit klammen Gesten neu einrichten, es fehlen nicht Doppelbett, Wiege
und Kinderwagen. Die gravitätische Hochzeit hatte sie aufs Standesamt
geführt, wo sie sich an einem klobigen Tisch mit Kreuz gegenüber sitzen und
das Jawort geben. Als sie den Ehevertrag unterschreiben, erscheint wie aus
dem Nichts ein TV-Team mit Handkamera für die Live-Übertragung. Solche
verbrauchten und andere abstruse Einfälle bringen die Aufführung szenisch
aus dem Lot: Gags, die das Stück desavouieren.
Für die historische «Lohengrin»-Welt hat Richard Jones ein paar triftige
gesellschaftspolitische Beobachtungen parat. Bei ihm spielt das Stück in der
formierten Gesellschaft: Die Chöre, das sollen apathische Menschen sein, sie
stehen uniform oder schreiten akkurat geordnet, während die Staatsmacht mit
paramilitärischer Security omnipräsent ist. Das Schicksal dieses Volkes ist
traurig, sein Ende tödlich: Lohengrin und Elsa sind nach heißem Disput um
die verbotene Frage getrennte Leute, der Ritter stellt die Wiege aufs Bett,
übergießt — Loges Vorbote!— alles mit Sprit aus rotem Kanister und zündet
Feuer. Der Abschied der Liebenden gerät beklommen und bewegend. Die wahren
Verlierer sind die einfachen Menschen mit ihrer verlorenen Hoffnung auf den
erlösenden Führer; Sie sitzen in der Finalszene desolat auf einem Feld von
gräberähnlichen Bänken und legen sich nieder — ein jeder mit Pistole in der
Hand. Ein Ende mit Schrecken.
|