Auch die fünfte und letzte Aufführung von Wagners
'Lohengrin' innerhalb der Münchner Festspiele 2009 hinterlässt beim Publikum
Verstörung, die sich in kräftigen Buhrufen nach dem dritten Akt entlädt.
Wegen der Inszenierung, nicht wegen der Musik. Dabei war es um die Musik
nicht einmal auf das Beste bestellt: Viele waren natürlich in der Erwartung
gekommen, Jonas Kaufmann als Lohengrin zu hören, und so war es eine
Enttäuschung, dass Kaufmann nach zwei Akten aufgrund einer fiebrigen
Erkältung ausgerechnet durch Ivar Gelhuus (Gilhuus) mit einer
eher unangenehm brüchigen und vibratoreichen Tenorstimme ersetzt werden
musste. Aber auch dann, wenn Kaufmann in den ersten beiden Akten einen sehr
präsenten und stimmlich starken Lohengrin gab, Anja Harteros eine lyrische
und anrührende Elsa auf die Bühne brachte, Wolfgang Koch einen
kraftvoll-bösen, aber auch verzweifelt-abhängigen Telramund sang und Kent
Nagano umsichtig, unglaublich transparent, aber auch gefühlsstark das
bayerische Staatsorchester dirigierte (das ihm darin eher folgte als der
Chor - hier geriet leider manches aus den Fugen): Michaela Schusters Ortrud
klang streckenweise eher schrill und laut als böse und verschlagen, und auch
Christof Fischesser als Heinrich der Vogler fehlte wirklich sonore Größe.
Aber es war nicht die Musik, es war die Inszenierung, die mit Buhrufen
abgestraft und vielfach als schlichtes Ärgernis empfunden wurde.
In der Tat verstören die Bilder, die Richard Jones als Regisseur gemeinsam
mit Ultz als Bühnenbildner auf die Bühne bringt. Muss das sein, fragen sich
viele: Lohengrin in Jogginghose und T-shirt, später dann in
Zimmermannstracht? Elsa als Architektin, deren größter Traum darin besteht,
ein kleinbürgerliches Einfamilienhaus zu bauen, das von Akt zu Akt Gestalt
annimmt, bis es fertig gebaut knapp die ganze Bühne füllt und von Lohengrin
am Ende abgefackelt wird? Ortrud als Geschäftsfrau mit blonder Perücke und
grauem Hosenanzug, die die alten Götter Wodan und Freia anruft? Die Bürger
von Braband als uniforme Masse, unter denen sich auch ein paar braune
Uniformen finden, und die am Ende der Oper kollektiven Suizid begehen?
Gesamtkunstwerk statt Bebilderung
Nun, es muss natürlich nicht sein, aber es kann. Wer die Produktionen von
Jones kennt, der weiß, dass es ihm nie um eine ganz eindeutige und klare
Übersetzung des Librettos und der Musik auf die visuelle Ebene der Bühne
geht. Er fügt vielmehr dem, was die Musik und das Libretto erzählen, eine
dritte Ebene hinzu, so dass sich aus Musik, Libretto und der Inszenierung
ein neues, faszinierendes Gesamtkunstwerk ergibt. Ein Beispiel dafür: Als
Lohengrin die Bühne betritt, in grauer, seitlich silber gestreifter
Jogginghose, blauem Shirt und Turnschuhen, erzählt die Musik etwas anderes
als man sieht. Man hört: Hier kommt der Erlöser aus lichten Höhen auf die
Erde. Man sieht: Ein Mensch betritt die Bühne, sicherlich sympathisch und
mit persönlicher Ausstrahlung, aber gewiss kein Halbgott aus einer anderen
Welt. Das provoziert Fragen.
Dass das, was auf der Bühne gezeigt wird, nicht einfach bebildert, was das
Libretto erzählt oder die Musik deutlich macht, entspricht dabei der
Kunstform Oper. Oper ist kein Theater. Schon durch die Musik wird der
Handlung eine neue Ebene der Deutung hinzugefügt, die die Handlung auf viele
Weise ausdeuten kann - kommentierend und ergänzend, aber auch in Frage
stellend und kontrakarierend. Ebenso bringt Jones mit der Inszenierung eine
neue, dritte Ebene in das Kunstwerk hinein. Die Bilder entfalten eine eigene
Kraft, die sich mit der Musik ergänzt, reibt, die die Handlung in Frage
stellt. Kriterium dieser Art von Regietheater ist die Stärke des kreativen
Potentials, das in die Inszenierung im Zuschauer entfalten kann. Und in der
Tat sind die Bilder und Symbole unglaublich vielschichtig:
Multiple Perspektiven
Man kann Jones' 'Lohengrin' als politische Parabel lesen, die die
Unmöglichkeit des ‚kleinen Glücks‘ in einer totalitären Gesellschaft
deutlich vor Augen führt. Von Beginn an ist klar: Wir sind in einem
hochgerüsteten Staat kurz vor einem Angriffskrieg, die Bürger sämtlich
uniformiert und uniform, die Stimme ‚von oben‘, die alle Bürger stets
erstarren lässt, ist nicht die Stimme eines himmlischen Erlösers, sondern
des Heerrufers des Königs. Besonders pessimistisch: Selbst dann, wenn im
dritten Akt die Bürger die blauen Shirts von ihrem neuen Herrscher Lohengrin
tragen - es ändert sich dabei nichts. Selbst Elsa, die zunächst von der
Stimme von oben gänzlich unbeeindruckt gewesen ist und stets weiter an ihrem
Haus baute, beginnt ebenfalls zu erstarren und sich von dem Totalitarismus
in Bann ziehen zu lassen. In einer solchen Gesellschaft lässt sich kein
heimeliges Haus bauen, das Sicherheit und Schutz gewähren könnte.
Man kann das Stück als Kritik an den Lebenzielen einer kleinbürgerlichen
Existenz sehen, die nichts anderes möchte, als ein Heim, das vor allen
äußeren Gefahren schützt. Elsa und Lohengrin bauen kein Schloss, keine Burg,
sondern eine bürgerliche Einfamilienhaus mit Ikea-Bett, Kaninchenställen und
Kinderwagen. Aber ein derartiges Lebenskonzept geht nicht auf. Das Unheil
ist eingezogen, noch bevor Elsa und Lohengrin das Haus überhaupt betreten.
Vom Balkon des Hauses aus singt Telramund mit seinen Mannen seine Anklage
gegen Lohengrin. Kleinbürgerliche Träume zerschellen an der Wirklichkeit.
Jones' 'Lohengrin' lässt sich als Geschichte der Zerstörung einer Frau
sehen, deren Eltern früh gestorben sind, die des Brudermords angeklagt ist,
sich konsequent in ihre eigene Privatwelt flüchtet und daran scheitert.
Großartig, wie sich Elsa bei Jones im ersten Akt konsequent der Kommunkation
verweigert, seltsam, beinahe autistisch mit ihren Fingern spielt, um einen
Freiraum in ihrer Innenwelt schützen zu können, der im Hausbau konkrete
Gestalt annimmt. Durch die Kraft des Bösen wird sie zunehmend zu einer
Realistin, erwacht aus ihren Glücksphantasien, sie wird aus ihrer Traumwelt
gerissen, in die Enge gedrängt und scheitert.
Man kann die Münchner Produktion als Kritik an einer Männerkultur lesen, in
der Männer das Gespräch verweigern, sich an den Taten messen lassen wollen
anstatt sich selbst zu erkennen zu geben. Bei Jones wird deutlich, dass auch
Lohengrin seinen Auftrag verweigern möchte, indem er sich in die
Häuslerbauer-Idylle flüchtet. Vom Gral gesandt, eine Gesellschaft zu retten,
verfolgt er andere Ziele.
Man kann Jones' Deutung auch als existentielle oder religiöse Provokation
verstehen. Seine Darstellung der Lohengrinfigur konfrontiert mit der Frage,
wer oder was eigentlich Erlösung oder Rettung bringen kann, wenn es
überhaupt Erlösung gibt. Motive aus christlichem Hintergrund - Lohengrin als
Zimmermann, die Charakterisierung der Figur als göttlich (so die Musik) und
menschlich (so die Ebene der Inszenierung) zugleich - spannen ein
schillerndes Assoziationsfeld auf, das Überlegungen zu Religion und Alltag,
zu Sehnsucht und Realismus freisetzen kann.
Warum wird diese Multidimensionalität der Inszenierung vom Münchner Publikum
so wenig gewürdigt? Vielleicht ist das Bild des Hausbaus zu realistisch, so
dass man das Bild als eindeutiges Zeichen, aber nicht als vieldimensionales
Symbol versteht. Vielleicht liegt es auch daran, dass der
Ortrud-Handlungsstrang nicht wirklich plausibel in die Erzählung integriert
worden ist. Die Inszenierung überzeugt über weite Strecken aber, weil sie
für den, der sich auf die Bilderwelt einläßt, Fragen und Perspektiven
aufwirft, die sich produktiv aus dem Lohengrinstoff ergeben. Wer solche
Fragen stellt, der wird in der Inszenierung von Jones vielfältige
Perspektiven und Antworten finden! Also: Hingehen, und nicht nur einmal! Es
lohnt sich wirklich! |