Wahlkampf
mit Caspar David Friedrich? „Die schönste Stimme Deutschlands“ steht da auf
einem Werbeplakat in der Münchner U-Bahn. Man sieht eine romantische
Naturkulisse, davor einen Wanderer in Lockenpracht. Gewiss ebenfalls ein
Romantiker, auch wenn sein Äußeres mehr auf Latin Lover denn auf
Naturbursche hindeutet. Es ist der Tenor Jonas Kaufmann, eben die schönste
Stimme Deutschlands, und er streckt uns seine Hand entgegen: Folge mir.
Gerne doch! Und umso lieber, als es nicht in die Wahlkabine geht – sondern
in die Oper. In die „Lohengrin“-Premiere der Bayerischen Staatsoper München.
Dort freilich ist Caspar David Friedrichs erhabene Einsamkeit passé.
Abendgarderobe drängt sich an Abendgarderobe hoch bis in den vierten Rang.
Vor den Toren stehen einige unverbesserliche Optimisten mit ihren „Suche
Karte“-Schildern. Und 11 000 Menschen lagern auf dem Max-Joseph-Platz direkt
vor der Oper, wohin die Aufführung live übertragen wird. Von wegen Oper
interessiert nur ein paar Versprengte… Jonas Kaufmanns Rollendebüt als
Lohengrin wird mit Spannung erwartet. Es ist zugleich eine Art Generalprobe
für Bayreuth: Dort singt er im nächsten Jahr ebenfalls den Lohengrin.
Bislang galt der mexikanische Tenor Rolando Villazón als männliches Pendant
zu Anna Netrebko. Doch seit er von einer Stimmkrise in die nächste
schlittert, ist Jonas Kaufmann an seine Stelle getreten. Und man kann nur
hoffen, dass es ihm nicht ähnlich ergeht wie seinem Kollegen – dass er
vorsichtiger agiert, nicht allen Begehrlichkeiten des Klassik-Marktes
nachgibt. Eine Stimme ist kein 200-PS-Motor, den man den Berg hochprügeln
kann. Schon eher ist sie wie ein guter Wein, der Zeit zum Reifen braucht.
Genau dies, das Alter, hat Jonas Kaufmann Rolando Villazón voraus. Kaufmann,
der dieser Tage seinen 40. Geburtstag feiert, ist ein Spätentdeckter. Der
gebürtige Münchner studierte in seiner Heimatstadt Gesang und wurde 1994
erst einmal Ensemblemitglied in Saarbrücken. Zwischenzeitig erreichte die
Stimmkrise auch ihn, was er heute auf einen falschen pädagogischen Ansatz
zurückführt. Erst ein neuer Gesangslehrer verhalf ihm zu der Stimme, mit der
er heute zu hören ist: ein wohlklingender, baritonal timbrierter Tenor.
2001 kam er nach Zürich, aber auch dann dauerte es noch einige Jahre bis zum
Durchbruch. 2007 nahm ihn die Decca unter Exklusivvertrag und baute ihn
konsequent als Star auf. Wofür selbstverständlich auch Kaufmanns Aussehen in
die Waagschale geworfen wird. Ohne das geht heute nichts mehr. Sein
Repertoire ist breit, was seine beiden Alben bezeugen: das erste („Romantic
Arias“) widmete sich vorwiegend dem französischen und italienischen
Repertoire, das jüngste Album („Sehnsucht“) mit besagter
Caspar-David-Friedrich-Kulisse auf dem Cover konzentriert sich mit Tamino,
Florestan, Parzifal und Lohengrin auf die ganze Bandbreite der deutschen
Oper.
Und somit ist die schönste Stimme Deutschlands also beim deutschesten aller
Komponisten angekommen, bei Wagner. Im „Lohengrin“ freilich profitiert Jonas
Kaufmann nach eigener Aussage von seinen Erfahrungen im italienischen Fach,
Linienführung und Tessitur seien hier noch viel „italienischer“ als in
anderen Wagner-Opern. Vielleicht geht Kaufmann daher manche Töne etwas
italienisch an. Vor allem aber überzeugt in der Münchner Premiere der
kräftige Strahl seiner Stimme, die gleichwohl nie kraftmeierisch klingt,
sondern gerade im Forte ihre strahlendsten Momente entwickelt. Dabei ist
solche Entfaltung angesichts der Lautstärke, die der Dirigent Kent Nagano
mit dem Bayerischen Staatsorchester bisweilen entwickelt, gar nicht so
leicht zu bewerkstelligen.
Und Regisseur Richard Jones, der in seiner spröden Inszenierung jeden Anflug
von Pathos fast panisch vermeidet, dekliniert die Lichtgestalt Lohengrin auf
einen profanen T-Shirt-Träger herunter. Zusammen mit seiner Elsa zimmert er
buchstäblich am Eigenheim – Sinnbild vielleicht für eine neue
Gesellschaftsordnung nach 1848 (Die Vollendung von Wagners Partitur und die
deutsche Revolution fielen zeitlich zusammen), die sich bald ins
Biedermeierliche verflüchtigt. Gewiss ein passables Regiekonzept, das in
seiner Durchführung allerdings arg holzschnittartig und aufgesetzt wirkt.
Und gegen das sich (nicht nur) Kaufmann aus eigener Anstrengung heraus
behaupten muss. Dass ihm und Anja Harteros als kongeniale Elsa an seiner
Seite das gelingt, ist vielleicht das eigentliche Wunder.
Kaufmann – ein „Wundertenor“? So einfach ist es auch wieder nicht. Da hat
jemand lange an seiner Stimme gearbeitet. Und zu hören ist, wie bewusst er
sie einsetzt. Die Gralserzählung etwa und den Abschiedsgesang („Mein lieber
Schwan!“) beginnt er jeweils völlig zurückgenommen im Piano. Zärtlich,
entrückt, berückend. Das ist eine ästhetische Entscheidung, einerseits,
andererseits wirkt Kaufmanns Stimme gerade im Piano und gerade in den
Höhenlagen leicht gebremst und nicht wirklich frei. So als taktiere er hier
im Umgang mit einer unfreiwilligen Fragilität – die seiner gut geerdeten
Stimme ansonsten völlig abgeht.
Das Münchener Publikum feierte ihn freilich ohne jede Einschränkung –
zusammen mit Anja Harteros und Wolfgang Koch als rundum überzeugender
Telramund. Und buhte das Regieteam gnadenlos aus. Manchmal geht es in der
Oper eben mindestens so hoch her wie im Wahlkampf.