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Die Zeit, 10. Dezember 2009 |
Claus Spahn |
Bizét, Carmen, Mailand, 7. Dezember 2009 |
Drama an der Scala
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Mit Schmiss, Krach und Knalleffekten: In Mailand hatte Emma Dantes
»Carmen« Premiere
Polizisten sollen am Abend der Saisoneröffnung die Mailänder Scala vor
Demonstranten schützen |
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Jedes Jahr zur Saisoneröffnung der Mailänder Scala darf der ganz normale
Wahnsinn Regie führen. Bei keinem anderen Hochkultur-Spektakel überbieten
sich die Zeitungen so großformatig mit Vorberichten, drängen sich am
Premierenabend so viele Zaungäste an den Absperrgittern, zuckt das Blaulicht
der vorfahrenden Polizeieskorten so dramatisch, fällt der Lärm der gegen
Reichtum und Verschwendungssucht protestierenden Demonstranten so schrill
aus. Das Eingangsfoyer der Scala gleicht eine Stunde lang einem Börsensaal
im Augenblick explodierender Kurse. In qualvoller Enge wird jeder
eintreffende Prominente von laut rufenden Boulevardjournalisten,
Fernsehteams und Fotografen bestürmt. Die Einzigen, die das
Yellow-Press-Inferno mit einem eingefrorenen Nichtlächeln überblicken, sind
zwei Ehrengardisten in Prachtuniform, die den Aufgang zu den Logen bewachen.
Man wähnt sie auf einem Podest stehend, so hoch ragen ihre Schultern über
das Foyergewusel hinaus. Aber ein Blick nach unten zeigt: Ihre Füße stehen
auf dem Marmorboden. Sie haben die Körpergröße von surreal langen
Basketballriesen. Spätestens hier versteht der Letzte, dass eine
Scala-Eröffnungspremiere nicht mit normalen Maßstäben zu messen ist.
Auch drinnen auf der Bühne muss traditionell, dem Anlass entsprechend, alles
größer und aufwendiger ausfallen, von den Chormassen bis zum
Kulissengemäuer. Was einem Stück wie Georges Bizets Carmen, das in diesem
Jahr auf dem Programm stand, naturgemäß nicht gut bekommt. Dessen Stärken
liegen nämlich jenseits des folkloristischen Torero-Trubels im Drama der
Individuen und in den intimen Zweierkonstellationen. Der Dirigent des
Abends, Daniel Barenboim, weiß das natürlich: Schwarz dräuend und mit
geradezu wagnerhaftem Pathos lässt er das Todesmotiv am Ende der Ouvertüre
grollen, ein bekenntnishafter Hinweis zu Beginn. Aber für den Rest des
Abends ist er sich dann doch nicht zu schade, eine Carmen mit viel
Lautstärke, Schmiss und Knalleffekten zu dirigieren, auf dass auch die
botoxgespritzte, kaugummikauende, mitten in der Aufführung mit dem
Mobiltelefon hantierende Premierenklientel, die sich im rotsamtenen
Logenrund mit dem ehrwürdigen Mailänder Kulturadel mischt, auf ihre Kosten
kommt.
Die Regisseurin Emma Dante, eine vom Schauspiel kommende, kontrovers
diskutierte Hoffnungsträgerin des italienischen Theaters, hat für
Scala-Verhältnisse viel tapferer gegen die üblichen Carmen-Klischees
aninszeniert. Ihr Sevilla ist ein von erzkatholischer Moral unterdrückter
und mit militärischer Gewalt terrorisierter Ort der Unfreiheit.
Marionettengleich bewegen sich die Betschwestern in der Eröffnungsszene, und
die Soldaten inszenieren ihren Wachwechsel als zynische Scheinerschießung.
In solch repressiven Verhältnissen nehmen Fabrikarbeiterinnen die langen
Messer des Selbstbefreiungskampfes in die Hand. Eine so wutrasende,
aggressiv um sich schlagende und für ihre Freiheit mit Haut und Haaren
kämpfende Frauenrebellenhorde wie in Mailand hat man in
Carmen-Inszenierungen selten gesehen. Nur mit dem Gewehr im Anschlag und
Warnschüssen in die Luft schaffen es die Soldaten, den Aufstand
niederzuschlagen. Emma Dantes Frauen stehen über den Rollen, die ihnen von
der machistischen Männerwelt zugewiesen werden. Ihr Spiel mit Nonnenhauben
und Blume im Haar ist ein ironisches Als-ob und ihr Schenkelspreizen ein
aggressiver Akt femininer Selbstbestimmung. Daraus hätte Spannendes werden
können, wenn die Inszenierung nicht von Akt zu Akt immer tiefer in üppigem
Dekor versinken würde. In der Schlussszene schwingt ein riesiges
Weihrauchfass über dem mit roten Taschentüchern den Bilderbuchstierkämpfern
zuwinkenden Volk – und man weiß nicht mehr, ob hier ein letztes ironisches
Zeichen gesetzt wird oder ob der Weihrauch nur die farbenfrohe Aufführung
segnen soll, im Namen des heiligen Ambrosius.
Muss der nicht als Schutzpatron aller Scala-Eröffnungsabende vor allem den
Sängern beistehen? Jonas Kaufmann war der bewährt stimm- und
rollensichere Don José, der er seit Jahren ist. Das launische
Premierenpublikum feierte ihn, obwohl er kein italienischer Tenor ist.
Der Anna-Netrebko-Gatte Erwin Schrott sang den Escamillo einnehmend als
charismatischen Gewaltmenschen. Das Carmen-Sensationsdebüt der jungen
Georgierin Anita Rachvelishvili, einer Elevin aus dem Mailänder Opernstudio,
die zuvor noch nie in einer großen Rolle auf der Bühne gestanden hat,
glückte ebenfalls. Sie war eine stimmlich ungemein kraftvolle und energische
Carmen, wenn ihr auch noch ein paar dramatische Farben fehlen. Die einzige
Gefahr, die ihr drohte, war eine beim Schlussapplaus auf die Bühne regnende
Blume. Deren Stiel hätte ihr fast ins Auge gestochen. |
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