Weltexpress
Claudia Schulmerich
Bizét: Carmen, Zürich, 28. Juni 2008
Ein Jüngling liebt ein Mädchen ...
„Carmen“ im Rahmen der Zürcher Festspiele 2008
„Ein Jüngling liebt ein Mädchen, die hat einen Anderen erwählt…Es ist eine alte Geschichte doch bleibt sie immer neu; und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei!“, lauten die Verse von Heinrich Heine, die alle Irrungen und Wirrungen von Liebe im Kern zusammenfassen, die nicht den gewünschten Weg geht. Diese alte Geschichte erzählt das Opernhaus Zürich mit der Neuinszenierung von Bizets „Carmen“ ungewöhnlich neu.

Anfang Juli war erst Premiere und das mediale Echo hat gleich für alle Vorstellungen zu einem „Ausverkauft“ geführt. Sie haben recht, die Besucher, denn so frisch und so spannend ist diese Carmenaufführung, als geschehe die tragische Geschichte gerade hier vor unseren Augen, als habe Bizet sie gerade erst komponiert und wir sie zuvor nicht gekannt. Das ist bei dieser Ohrwurmoper fast ein Wunder und möglich wurde es, weil Regisseur Matthias Hartmann mit hervorragenden Sängern, voran Jonas Kaufmann als José und Vesselina Kasarova als Carmen, arbeiten konnte und die psychologische Seite vom Lieben als movens der Inszenierung nimmt, da wo die Liebe zwischen Macht und Hörigkeit changiert und zum Tode führt, womit er gleichzeitig das Folkloristische der Carmen ignoriert, ja im Konzept dieser Aufführung ignorieren muß.

Der vom Opernhaus Zürich scheidende Dirigent Franz Welser-Möst, der 2010 die Leitung der Wiener Staatsoper übernimmt und in Wien auch erneut auf den Regisseur Hartmann trifft, der diesjährig neuer Burgtheaterchef wird, hat seine Musiker in der Hand, besser am Taktstock und läßt sie diszipliniert mit hoher Musikalität spielen und er ist ein richtiger Sängerdirigent. Wie er sie im Blick hat, die Musik auf sie zulaufen läßt, sie unterstützt, wo nötig und selber Beifall spendet, wenn das Publikum bei einer Arie des José tatsächlich tobt, das ist hohe Kunst, die schon mit der Ouvertüre beginnt: dramatisch schwungvoll, trommelnd, surrend, säuselnd. Bei den ersten fahlen düsteren Tönen geht der Vorhang auf, vor dem - ein sinnloser, aber lustiger Gag - ein großer Hund liegt, der später mit dem Schwanz wedeln und den Ohren schlackern kann.

Wir sehen also auf ein weißes Rund, umfangen von einem je nach Beleuchtung farbig wechselnden Hintergrund (Martin Gebhardt). Eine minimalistische Bühnenlösung (Volker Hintermeier) könnte man denken, das trifft es aber nicht, das weiße Rund wirkt wie eine Folie, auf der sich die menschlichen Gefühle austoben und die das mehrfach fließende Blut auch optisch als rote Flecken wahrmacht. Hinzu kommt, daß Regisseur Hartmann einige geniale ‚Tricks’ anwendet, um die Ungleichzeitigkeit und das mangelnde Gleichgewicht der Gefühle von Micaela, José, Carmen und Escamillo dem Betrachter schon sinnlich wahrnehmbar zu machen. Nach belustigendem Auftakt, für die Soldaten nämlich, die die vom Lande kommende Micaela (Isabel Rey) nicht nur wie sonst foppen, sondern hier handgreiflich werden und sie ihres Kleides berauben – nicht nur derb, sondern auch bei der sehr schön, aber zu elegant angezogenen doch mädchenhaften Micaela (Kostüme Su Bühler) nicht schlüssig - , erleben wir einen José, der geradewegs aus der Kadettenanstalt oder einem Klosterinternat kommt.

So verklemmt, so unfähig, sich in seinem eigenen Körper heimisch zu fühlen, so unsicher und allen Ansprachen hilflos ausgeliefert, haben wir noch keinen José gesehen, aber aus dieser gewachsenen Haltung heraus nimmt die ganze Geschichte eine Tiefe und Zwangsläufigkeit an, die dann im vierten Bild einen auch körperlich veränderten Menschen zeigt, einen Mann, der von Carmen geliebt werden will, weniger einen, der eine Frau besitzen will. Dieser Mann agiert selbstverständlich aus seinen beschädigten Gefühlen heraus und hat zu einer Einheit von Seele, Geist und Körper gefunden, auch wenn es übel ausgeht. Im letzten Bild, in dem das weiße Rund einen knorrigen Olivenbaum ‚in echt’ zeigt, werden die narzistischen Kränkungen, die Carmen dem José zufügt, von Vesselina Kasarova als fast zwanghaft vorgeführt, das hat nichts Spielerisches mehr, auch nichts den anderen nur beleidigen, treffen und verletzen wollen, nein, das führt eigentlich im Freudschen Sinne einen gelebten Todestrieb vor, in dem José das vollzieht, was die Heldin von ihm fordert, will er noch ein Mensch bleiben und kein Tier. Die Umkehrung der Verhältnisse also, würde man doch von einem Menschen die Kontrolle der Gefühle fordern. Was sich hier in den letzten Minuten dieser Carmenaufführung auf der Bühne tut – der Baum hat jetzt auch die dramaturgische Funktion, um den herum sich die beiden Protagonisten umschleichen – das wird man nicht vergessen. Denn für uns wurde erst hier die Carmen der Vesselina Kasarova faßbar und dem José des Jonas Kaufmann ebenbürtig, der für uns der Schlüssel dieser Aufführung blieb.

Aber wir waren ja erst am Anfang und müssen endlich zur Carmen kommen. Mag ja sein, daß eine Frau die Darstellung einer Carmen anders beurteilt als ein Mann, auf jeden Fall war vom ersten Auftritt an dieser Carmen etwas stark Manieristisches eigen. Vesselina Kasarova stellte die Carmen dar, sie war es nicht. Das stets eingeknickte Bein, der trotzig(?) erhobene Kopf, der verschobene Körper, das war kein animalisches und sinnliches Wesen, das war über den Kopf gesteuerte Frauenmacht und Ohmacht zugleich. Dabei sang sie berückend und strafte auch die Opernkenner Lügen, die dem Französischen die Singqualitäten absprechen. Allein in der Tiefe kam bei ihr der allgemeine ‚Vorwurf’ zum Tragen und es klang sehr guttural, aber das paßte. Daß sie das Zentrum des Bühnengeschehens wurde und in allen Akten blieb, das gibt die Oper vor, aber das war auch Ausdruck ihres fast manischen Herrschaftsanspruchs über die anderen, das sie nur einem gegenüber ablegen konnte, dem Stierkämpfer Escamillo.

Die gesamte Inszenierung ist von solchen psychologischen Raffinessen durchzogen. Die Sanftheit und Hingabefähigkeit der Carmen ist nämlich nicht dem platten Verständnis geschuldet, sie habe in diesem starken Manne nun ihren Meister gefunden, nein, sie zeigt auf was die Voraussetzungen sind, eine Carmen zu erobern: nämlich Verehrung und zwar grenzenlose des Mannes, kein Kampf in der Liebe, sondern Umwerben und Verwöhnen. Allein in diesen beiden Personen von Carmen und Escamillo (Michele Pertusi) stellt sich auf der Bühne ein Gleichgewicht und eine Gleichzeitigkeit der Gefühle her. So will es die Regie und sie sagt damit auch, daß der Ursprung des Unglücks nicht die wechselnden Gefühle der Carmen sind, sondern daß sie zuvor niemanden gefunden hatte, dem sie sich hatte hingeben können. Damit kommen wir zu den Feinheiten, die tatsächlich die Inszenierung durchziehen.

Der Regisseur zeigt uns im Bild, was an der ganzen Geschichte unstimmig ist. Als im ersten Akt Micaela auf José tritt, wird das fast immer so inszeniert, daß er sich über den Besuch des geliebten Mädchens freut und sie sich der gegenseitigen Zuneigung versichern und erst der spätere Auftritt der Carmen seine Gefühle verändert. Hier aber nimmt José Michaela gar nicht recht wahr. Während sie ihm den Kuß der Mutter überträgt und auf mehr wartet, wendet er sich schon ab, will den Brief lesen; es sind lauter kleine körperliche Zeichen, die die unterschiedlichen Gefühle schon hier zeigen, auch, wenn er den Kuß an die Mutter durch einen auf die Stirn erwidert. Ein anderes Beispiel sind Carmen und José, die kein einziges Mal die ganze Oper hindurch als Liebespaar auch körperlich agieren, was sonst gang und gäbe ist, um den Unterschied zum bösen Ende herauszustellen. Nein, Regisseur Hartmann zeigt, daß das nie aufgehen konnte, mit den beiden. Wir Zuschauer wissen also immer schon etwas mehr als die Protagonisten auf der Bühne. Auch, als in der Schenke endlich die Annäherung der beiden passierte, im Hintergrund aber im Fernseher, den keiner anschaute, der Stierkämpfer Camillo gezeigt wurde, minutenlang.

Sicher konnten diese inszenatorischen Feinheiten nur gelingen, weil das Umfeld hervorragend mitspielte. Micaela blieb eine Hintergrundfigur, ihre schöne Stimme kippte in der Höhe ins Schrille, das Schmugglerquartett war spielerisch und sängerisch eine Einheit auf hohem Niveau, die Soldaten und ihr Offizier, alles perfekt und der Kinder- und Erwachsenenchor (Ernst Raffelsberger) mitsamt der Choreographie (Teresa Rotemberg) eine Augen- und Ohrenweide. Diese Oper steht und fällt mit der tragischen Beziehung von José und Carmen und in Zürich müßte die Oper eigentlich auch so umbenannt sein in: „José und Carmen“.






 
 
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