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Die Zeit, 3. Juli 2008 |
Von Christine Lemke-Matwey |
Bizét: Carmen, Zürich, 28. Juni 2008, Vorstellung 1.7.2008
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Ich singe, also lebe ich
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Vesselina Kasarova debütiert
am Züricher Opernhaus als Carmen und gibt eine verzweifelte
Alleinunterhalterin in einer entseelten Welt |
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Das Geheimnis liegt in den Zehenspitzen und wie
diese sanft den Boden küssen, Schritt für Schritt. Als malten sie kleine
Kreise in den heißen, hellen Sand. Als sagten sie: Die perfekte Choreografie
ist unser Gesetz. Ballerinas haben diesen Gang, Toreros üben ihn.
Majestätisch, herrisch, stolz. Brust raus. Dabei reichte es eigentlich, den
Kopf à la Carmen in den Nacken zu werfen und Ohrringe und Locken zu
schütteln oder die Hände in die Hüften zu stützen. Oder die Nüstern zu
blähen, wie Carmen, und den Männern so die letzte Luft zum Atmen zu rauben.
Dies alles tut Vesselina Kasarova auch, aber ihr reicht das offensichtlich
nicht.
Jenes gestanzte Gehen beschreibt die ganze Krux dieses Züricher
Rollendebüts. Zum einen dürften geborene Ausdruckskünstlerinnen wie Kasarova
mit dem Klischee des ewig Weiblichen ohnehin ein Problem haben – Sängerinnen
wie Victoria de Los Angeles oder Agnes Baltsa tun sich da von Haus aus
leichter. Man ist Carmen und also eine Schwester Alcinas, Medeas, Lulus,
männerfresserische Verführerin, Projektionsfläche, stetes Objekt steter
Begierde – oder man ist es nicht. Kasarova, die große Belcantistin und
Händel-, Rossini-, Mozart-Interpretin, ist es erwartungsgemäß nicht (darin
wiederum einer Christa Ludwig oder Brigitte Fassbaender nahe). Und das
heißt, zum anderen: Sie muss gedanklich, gestalterisch, gefühlsmäßig
kompensieren und ist wild entschlossen dazu. Zur Not auch ohne Regie.
Matthias Hartmann jedenfalls, der Regisseur des Abends, scheint bei der
Beantwortung der Frage, wer oder was Kasarovas Carmen hätte sein können,
wenig helfen zu können. Das fängt bei Su Bühlers konventionellen Kostümen an
(schnieke Uniformen für die Soldaten, Kittelschürzen für die
Zigarettenmädchen) und gipfelt in einem quasi leeren Raum (Bühne: Volker
Hintermeier), einer Kreuzung zwischen Stierkampfarena und
Wieland-Wagner-Scheibe. Hier ist alles möglich und nichts, man mogelt sich
mit halbem Herzen ums Folkloristische herum, macht gleichwohl einen Diener
Richtung Nietzsche und »Afrika« und beugt sich am Ende erschöpft der
Erkenntnis, dass dieses Stück am besten für sich selber spricht.
Da haben Andrea Breth in Graz oder Martin Kusej an der Berliner Lindenoper
doch genauer in die Noten geblickt, mal Traumatisches, mal strukturell
Aufschlussreiches zu Tage gefördert. Die ungebrochene Popularität der
Bizetschen Melodien kann ja nicht das Ende jeder Lektüre bedeuten.
Der doppelte Weißraum um Kasarovas Carmen macht diese zu einer erschreckend
autistischen Figur. Oft (zu oft) steht sie auf ihren Pfennigabsätzen ganz
allein im Schattenriss, und die Inbrunst, mit der sie sich auch stimmlich in
die Partie hineinzubohren versucht, steht ihr schwer ins Gesicht
geschrieben. Das klingt, nach anfänglichen Nervositäten, durchaus schön:
Natürlich hat die Bulgarin alle Farben und Töne und Nuancen, um die Partie
bis in ihre verborgenen Winkel hinein auszuleuchten, natürlich zieht sie der
Habanera mit dem erotischen Brodeln ihrer Bruststimme unweigerlich einen
doppelten Boden ein, und überhaupt ist ihr Mezzo nach so vielen Jahren im
Koloraturfach bereit und reif für gewichtigere, dramatischere Dinge. Diese
Carmen singt – reizvoller Gedanke – von allem Anfang an nur um des Singens
willen (»Je chante pour moi même«), weiß sich zur Nummer verdammt, eine
verzweifelte Alleinunterhalterin in ausgehöhlter, entseelter Welt. Einzig
ihr Gesang bedeutet noch Existenz. Die »Idee des Weibes«, wie Ernst Bloch
sagt, in musikalischer Gestalt? Die tiefe Frauenstimme, ausgerechnet, als
Inbegriff des Subversiven?
In dieser Haltung aber läuft Kasarova schnell heiß, nicht das kleinste »Tra
lalala la la la« will ihr mehr schlicht und beiläufig über die Lippen. Alles
ist höchste Kunst und Künstlichkeit, was solange ein Ausweg aus den vielen
drohenden Stereotypen sein könnte, so lange Hartmann ihr keinen mit
Kastagnetten klappernden Zigeunerinnen-Realismus abverlangt. Beides zusammen
aber, die Manier und das Abziehbild, die kaum zu bändigende Virtuosität der
Interpretin und die Ratlosigkeit der Regie, lässt keine theatralische
Erfüllung aufkommen. Kunst-Geschöpf, Primadonna, Todesnärrin – bis zum
bitteren Schluss wird man nicht recht schlau aus dieser Frau und soll es
vielleicht auch gar nie werden. Nur ist genau das leider nicht inszeniert.
Wenn es im vierten Akt ans Sterben geht, dann sticht der brave Sergeant Don
José, der alles aufs Spiel gesetzt und alles verloren hat, um Carmen zu
gewinnen, mit einem winzig kleinen Messerchen zu: einmal, zweimal, wie im
Vorübergehen. Was zu erledigen war, kein großes Schlachtfest, keine rasende
Attacke. In allem verkörpert dieser José das Gegenteil, und auch darüber
gerät die Aufführung vielsagend ins Straucheln: ein Spießer mit Butterstulle
und weißem Plastikventilator, der nicht die geringste Chance hat, sich aus
seiner Spießerwelt zu befreien. Und ein Sängerstar, Jonas Kaufmann, der
unverhohlen auf Effekt singt, selbst in der Blumenarie, mit wohldosierten
Schluchzern und gehauchten Piani.
Es gehört zu Franz Welser-Mösts integrativen, leichtfüßig-französischen
Qualitäten am Pult des Züricher Opernorchesters, dass er an diesem Abend
beide Protagonisten, beide Prinzipien wie auf Händen trägt: den Mann und die
Frau, den unfreiwilligen Täter und sein lüsternes Opfer, den umjubelten
Tenor und die sich vor aller Ohren und Augen zerfleischende Grüblerin. Am
Ende liegt Carmen vor José im Staub, ein Olivenbaum spendet dürre Schatten.
Seine Hände zittern, als er ihren Leichnam zum ersten, letzten Mal liebkosen
will. Die Berührung misslingt. Alles andere wäre auch ein Wunder gewesen. |
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