Tagesanzeiger, 30.6.2008
Von Susanne Kübler
Bizét: Carmen, Zürich, 28. Juni 2008
Carmen hat genug von verliebten Männern
Hochverdienter Applaus bei der Festspielpremiere im Zürcher Opernhaus: Für Georges Bizets «Carmen» geben fast alle Beteiligten alles.
In der Beiz von Lillas Pastia singt Don José von Liebe, und Carmen verdreht die Augen. Schon tausendmal hat sie diese Leier gehört, wenn auch wohl selten so ergreifend, wie Jonas Kaufmann sie nun vorbringt. Und sie hat genug: von Männern, von ihrer eigenen Wirkung auf sie. Vesselina Kasarova zeigt bei ihrem Rollendebüt keine feurige Carmen, sondern eine genervte. Schon die Habanera singt sie mit einem gewissen Überdruss: Lässig jongliert sie mit den Tönen, die sie färbt und führt, wie sie will, die leicht sein können oder verschattet, die über ihrem Kopf zu flirren scheinen oder tief aus der Brust kommen. Die Haltung markiert Erotik, je nach Bedarf auch Vulgarität, Trotz und Machtlust. Es ist ein Spiel, das sie da treibt.

Gefühlschaos des Don José

Die Liebe: Für diese Carmen ist sie eine Fingerübung, ein lästiger Zwang, vielleicht auch eine Rache für etwas, was früher passiert ist. Für Don José ist sie ein Schock. Eben noch sass er als braver Polizist unter dem Sonnenschirm, mit dicker Brille und Gartenzeitschrift. Jonas Kaufmann ist umwerfend als Spiesser, der sich pedantisch jeden Krümel von der Hose wischt und zwischendurch den verspannten Nacken streckt; der den Brief der Mutter küsst und nichts lieber möchte, als diese Carmen gar nicht sehen. Und er ist ebenso gut als verzweifelt Liebender, der seine bürgerlichen Regeln auch dort einhalten möchte, wo sie nichts gelten. Kaufmann muss nicht laut singen, um das Gefühlschaos dieses Don José in aller Intensität spürbar zu machen.

Wir können uns die Faszination, das Unverständnis zwischen den beiden vorstellen – doch eine Beziehung nicht. Tatsächlich blendet Bizets Oper ja genau diese aus: Der zweite Akt schliesst mit ihrem Anfang bei Lillas Pastia, wo Carmen für José tanzt (Vesselina Kasarova kann auch das) und er wohl trotzdem in die Kaserne zurückkehren würde, wenn es nicht einen Toten gäbe. Im dritten hat sie dann bereits genug von ihm.

Eine unheimliche Spannung besteht zwischen diesen beiden gegensätzlichen Figuren. Zwischen einem zutiefst authentischen Don José und einer Art Carmen-Zitat, zwischen zwei Sängern, die mit wunderbaren Stimmen alles ausdrücken können, was sie wollen, und das auch sehr genau und überlegt tun.

Die Übrigen, so hochkarätig sie bis in die kleinsten Rollen hinein besetzt sind, kommen da nicht dazwischen: nicht die Micaëla der Isabel Rey, die mit ihrem hellen, zuweilen spitzen Sopran und dem von Su Bühler entworfenen, dunkelblauen Rock perfekt jene enge Welt vertritt, in die ihr einstiger Verlobter José nicht mehr zurückkann. Und auch nicht der Stierkämpfer Escamillo des Michele Pertusi, der mit betont bodenständigem Bass um Carmen wirbt; man sieht und hört, dass er einen Stier eher bei den Hörnern packen, als dass er ihm ausweichen würde.

Neu entdeckte Kühnheiten

Dafür zündelt das Orchester der Oper kräftig mit. Franz Welser-Möst lässt es knallen in der Ouvertüre, die leisen Passagen wirken eher lauernd als zart, ganz ohne Kitsch wird das Lied des Toreador vorweggenommen. Und die Haltung bleibt die gleiche während des ganzen Abends: Da wird kein Hit zelebriert, sondern der Versuch unternommen, die Kühnheiten des einstigen Skandalstücks neu zu entdecken. So ist es noch einmal ein grosser Abend für den scheidenden Generalmusikdirektor Welser-Möst und sein Orchester. Die Interpretation hat Zug, aber sie fährt nicht auf ausgefahrenen Ge-leisen; man gibt Acht auf die Details, ohne dass jedes einzelne ins Scheinwerferlicht gehoben würde. Sehr geschmeidig und sehr französisch klingt das, auch in den Passagen «à l'espagnole». Die Sänger, inklusive Kinderchor, brauchen nicht zu brüllen, sondern können sich verlassen auf eine aufmerksame, prägnante Begleitung.

Der Zürcher Schauspielhausdirektor Matthias Hartmann, der nach Smetanas «Verkaufter Braut» nun zum zweiten Mal am Opernhaus inszeniert, konzentriert sich dagegen ganz auf die Hauptfiguren. Carmen und Don José sind ungemein präzis charakterisiert, auch durch eine Umgebung, die gleichzeitig abstrakt und realistisch ist. Auf einer runden, abschüssigen Bühne (Volker Hintermeier) definieren nur wenige Requisiten die wechselnden Örtlichkeiten. Durch eine frei stehende Tür kommen im ersten Akt die Arbeiterinnen der Zigarettenfabrik. Und der als Hund verkleidete Souffleurkasten wedelt, wenn er gestreichelt wird oder die Carmen besonders schön singt. Später gibt es ein paar Stühle, einen Telefonmast, einen Olivenbaum. Exakt genug für ein Drama, in dem die Figuren die Welt um sich vergessen oder verachten.

Witzige und plumpe Choreografien

Für die vielen Chorauftritte und -abgänge, die jeden Regisseur dieser Oper vor Probleme stellen, hat sich Hartmann hingegen nicht viel einfallen lassen. Sie kommen und gehen halt, all die Polizisten, Schmuggler, Stierkampfbesucher. Natürlich tun sie das locker, und wenn sie singen, gibt es kleine, teils witzige, teils eher plumpe Choreografien dazu. Aber eigene Geschichten entwickeln sich keine in dieser Masse, die deshalb nie mehr ist als das, was sie in der Oper eben zu sein hat: ein expressiv und facettenreich gestaltender Klangkörper (Vorbereitung: Ernst Raffelsberger). So ist es kein Zufall, dass die stärksten Szenen die sind, in denen Carmen und Don José allein auf der Bühne stehen: zwei Sänger, die eben auch grossartige Schauspieler sind. Ganz ohne Spektakel stirbt sie zuletzt unterm Olivenbaum, und Don José zittert die Hand, wenn er sie, noch einmal oder endlich, festzuhalten versucht. In diesem Moment ist alles enthalten, was dieses Stück und diese Aufführung ausmacht – und gut macht.
Das Public Viewing der «Carmen» am Bellevue zog 5000 Zuschauer an und war damit quasi ausgebucht.






 
 
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