Neue Luzerner Zeitung, 30. Juni 2008
Fritz Schaub
Bizét: Carmen, Zürich, 28. Juni 2008
Dramatische Tänze und Kämpfe
Gnadenlos stellt Schauspielhaus-Chef Matthias Hartmann die «Carmen»-Akteure in ein grelles Licht und lässt ihre Leidenschaften siedend heiss aufeinanderprallen.
Nicht nur die Wiener Staatsoper ist durch die Euro in Bedrängnis geraten, sondern auch das Opernhaus Zürich, hat man doch unmittelbar vor ihren Pforten die Fussballarena aufgepflanzt. Aber während Wien mehrere Vorstellungen wegen der Euro absagen musste, ging das Leben im Opernhaus seinen gewohnten Gang, selbst am gestrigen Finaltag. Ja, es gab so etwas wie eine Versöhnung zwischen Fussball und Opernspektakel, obwohl sich Intendant Pereira anfänglich gar nicht begeistert zeigte über die «Bescherung» vor seinem Haus (immerhin trug sie ihm nebenbei neue, schalldichte Fenster ein). Nicht nur, dass TV-Sportreporter Jann Billeter sich beim zweiten Halbfinal-Tag hinter die Kulissen der «Fidelio»-Aufführung schlich und dabei zu seiner Überraschung auf fussballbegeisterte Opernstars stiess. Am Tag der «Carmen»-Festspielpremiere zückte Don José auch auf der Grossleinwand des Public Viewing, um zwei Stunden verschoben, den Dolch gegen die seiner überdrüssig gewordene Carmen.

Abstrakte Raumkonzeption

Die letzte Zürcher Inszenierung der «Carmen» liegt erst sieben Jahre zurück, aber sie hatte dem Haus kaum Ehre angetan. Rehabilitation war also angesagt. Erwartungsgemäss mied auch Schauspielhaus-Chef und künftiger Burgtheater-Direktor Matthias Hartmann das Spanien-Klischee der «Carmen». Eher überraschte, dass er sich nicht für die Dialog-Fassung, sondern für die Version mit den von Ernest Guiraud nachkomponierten Rezitativen entschied, und damit für die Grosse Oper. Kompensiert wurde diese Wahl durch eine abstrakte Raumkonzeption mit einer kreisrunden Scheibe und wenigen Dekorationsteilen (Bühnenbild: Volker Hintermeier). Das hatte zusammen mit den italienisch und griechisch angehauchten Kostümen (Su Bühler) mediterranes Flair, am schönsten beim düsteren Schmuggelschauplatz mit einer Mondkugel, die wie ein Totenkopf aussieht, und im Schlussakt mit dem übergrossen Olivenbaum.

Emotionen fast aus dem Nichts

Wie aus dem Nichts überschwemmt Hartmann die Szene mit den wie entfesselt agierenden Chormassen (Einstudierung: Ernst Raffelsberger). Er stellt dabei die Protagonisten schutzlos aus mit ihren Leidenschaften, und sie vermögen dagegenzuhalten. Am überzeugendsten Jonas Kaufmann, der die Wandlung des Don José vom introvertierten Brillenträger und Muttersöhnchen zum aus der Bahn geworfenen Opfer Carmens und zum Mörder aus Verzweiflung ebenso anschaulich wie intensiv nachzeichnet. Dazu kommt eine dunkel timbrierte Stimme, die vom Pianissimo bis zum hochdramatischen Ausbruch souverän über alle notwendigen Farb- und Ausdruckswerte verfügt. Bewegend, wie der spätestens seit seinem Soloalbum auf Decca in die oberste Tenor-Liga aufgestiegene Münchner das Schlussduett aus einer flehenden Verhaltenheit heraus gestaltete.

Gespannt war man auf das Carmen-Debüt der Bulgarierin Vesselina Kasarova. Stimmlich wird auch sie sowohl den feiner geschnitzten als auch den heroischen Momenten gerecht, spielt virtuos mit den dunklen und hellen Farbregistern ihres Mezzosoprans. Aber die Figur nimmt man ihr nicht ganz ab. Es ist eher eine gut gespielte als eine durchlebte Carmen, mit Betonung auf den rebellischen und frechen Zügen. Glaubhaft hingegen bis in die Fingerspitzen ihr neuer Liebhaber, Michele Pertusi als auch stimmlich viriler Torero Escamillo, und Micaëla ist mit Isabel Rey ebenfalls typengerecht besetzt.

Jubel für alle

«Grosse Oper» hört man auch aus dem Orchestergraben, in dem Franz Welser-Möst bei seiner letzten Premiere als Generalmusikdirektor das Orchester der Oper Zürich mächtig antreibt. Wobei er weniger auf Farbnuancen und raffiniertes Kolorit als auf rhythmische Stosskraft und genaue Zuspitzung setzt. Am Schluss gab es Jubel für alle, vor allem für Jonas Kaufmann und Vesselina Kasarova.
Foto: Susanne Schwiertz






 
 
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