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Berliner Zeitung, 14. Januar
2006 |
Peter Uehling |
Mahler: "Das Lied von der Erde", Berlin,
12. Januar 2006
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Blind Date mit einem Klangkörper
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Lothar Zagrosek, der künftige
Chefdirigent des Berliner Sinfonie-Orchesters, stellte sich vor |
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Die letzten Male hatte das Berliner
Sinfonie-Orchester keine glückliche Hand bei der Auswahl seiner
Chefdirigenten. Auf den wenig ausstrahlenden Michael Schønwandt folgte der
mächtig ausstrahlende, aber an den programmatischen Ideen der
Konzerthaus-Leitung wenig interessierte Eliahu Inbal. Seine gegenüber dieser
Zeitung geäußerte Idee, das BSO auf Philharmoniker-Niveau zu bringen oder
wenigstens bis zwei Zentimeter darunter, war von vornherein keine gute Idee
in einer Stadt, in der es ja bereits die Philharmoniker gibt. Mit einem
Orchester, das sich als starke Marke und Inbegriff orchestraler
Höchstleistung etabliert hat, auf gleichem Gebiet zu konkurrieren - das
hätte bei allem Respekt wohl weder dem BSO noch seinem Chefdirigenten jemand
zugetraut. Noch dazu hätte die Konkurrenz mit den Philharmonikern dem Profil
des BSO allenfalls dann aufhelfen können, wenn es zwei Zentimeter darüber
gelandet wäre.
Ab der kommenden Saison wird Lothar Zagrosek, derzeit noch
Generalmusikdirektor des Württembergischen Staatstheaters Stuttgart, das BSO
leiten. Die Wahl ist allgemein begrüßt worden, denn Zagrosek ist ein
Dirigent, der das programmatische Profil des Hauses, das bislang nur
abstrakt über die Programmplanung wahrnehmbar war, verkörpert und in die
künstlerische Tat umsetzen kann. Spätestens seit seinem Wirken in Stuttgart
hat sich Zagrosek als engagierter Vermittler des Repertoires und Förderer
neuer Musik den besten Ruf erworben. Für den Anspruch des Konzerthauses, das
Repertoire zu befragen, statt es nur glänzend auszustellen, ist er der
richtige Dirigent.
Last der Machtausübung
Am Mittwoch stellte sich Zagrosek dem Freundeskreis des Konzerthauses im
Musikclub vor. Im Gespräch mit der Konzerthaus-Dramaturgin Heike Hoffmann
bezeichnete er die Machtausübung des Dirigierens als bedenklichsten und
eigentlich lästigen Teil dieser Tätigkeit und betonte sein Interesse an der
Sache: an den Noten und ihrem Umfeld, das von der Aufführungspraxis bis zum
geistesgeschichtlichen Kontext reicht. Und von diesem Interesse ist auch der
Lebensweg Zagroseks bestimmt. Er begann in der Provinz, als Solo-Repetitor
für Ballett und später als Chordirektor in verschiedenen Städten, unter
anderem in Kiel, wo er den Komponisten und Dirigenten Hans Zender kennen
lernte, der in ihm die Begeisterung für neue Musik weckte. Zagrosek hatte
Positionen in Wien, Paris und London; er war nach dem Mauerfall der erste
Dirigent aus dem Westen, der im Osten etwas lernen und gestalten wollte; von
1990 bis 1992 wirkte er als Generalmusikdirektor in Leipzig. Dass er nun
nach seiner enormen Erfolgen an der Stuttgarter Oper - er wurde zweimal zum
"Dirigenten des Jahres" gekürt - noch einmal ein Sinfonieorchester leiten
will, erklärte er mit seinem Interesse an der Zukunft des Sinfoniekonzerts.
An seiner Absicht, etwas am Konzerthaus zu gestalten über das Dirigieren
hinaus, lässt die von ihm geforderte Stellung als Stellvertretender
Intendant kein Zweifel. Merkwürdig ist an Zagroseks Berufung nur eines: dass
er das BSO vor acht Jahren das letzte Mal dirigiert hat. Da sich das
Orchester seitdem sehr verjüngt hat, dürfte die Erinnerung an ihn unter den
Musikern eher verblasst sein. So stark war das Interesse des Konzerthauses
an dem Dirigenten, dass die Frage, ob dieser und das Orchester miteinander
können, in die zweite Reihe verwiesen wurde.
Das Konzert, das Zagrosek am Tag darauf dirigierte, musste nun nachträglich
diese Verordnung rechtfertigen. Es geriet zu einem Auftakt mit
Symbolcharakter. Das gilt zunächst programmatisch für die Uraufführung des
Orchesterstücks "Herbst Wanderer" von Toshio Hosokawa für Saxophon, Klavier,
Schlagzeug und geteiltes Streichorchester. Zagrosek leitete das meist leise,
stockende Stück mit großer formaler Übersicht und klanglicher Sensibilität.
Schlüssig ergab sich eins aus dem anderen, lösten sich Saxophon und Klavier
mit stockenden Figurationen aus den Streicherklängen des Beginns,
vervielfältigten sich diese Figuren wiederum in den Streichern und
verhäkelten sich zu Ausbrüchen. Das Ergebnis der Schlüssigkeit war
allerdings eine wenig aufregende Studie in Melancholie.
Wesentlich eindrucksvoller gelang Zagrosek Gustav Mahlers "Lied von der
Erde". Selten wurde Mahlers nachdrückliche Gattungsbezeichnung "Sinfonie" so
ernst genommen wie hier. Die drei scherzohaften Gesänge in der Mitte nahm
Zagrosek sehr schnell, und schon näherte sich das sechssätzige Gebilde einer
normalen viersätzigen Sinfonie mit komplexem Kopfsatz, ausdrucksvollem
Adagio, Scherzo und Finale an. Aber auch im Detail drang Zagrosek auf enge
Verknüpfung und Intensität der Gestalten, der Orchestersatz verlor den Ton
des Begleitenden. Das hat frappierende Konsequenzen: Der Gesang, und mit
ihm der Sänger, wirken nicht mehr wie die Hauptsache, sondern treten nur
noch als Beschriftung des melodischen Geschehens auf, die Worte präzisieren
den melodischen Ausdruck. Dennoch sind die Sänger hochpräsent: Jonas
Kaufmann ist selbst im "Trinklied vom Jammer der Erde", dessen massiver
Orchestersatz normalerweise keinem Tenor eine Chance lässt, gut zu hören.
Und Petra Lang, vor kurzem als Alt-Solistin in Mahlers Dritter mit
übertriebener Artikulation aufgefallen, fügt sich mit geschmeidig linearer
Tonbildung in die Orchesterpolyphonie ein. Werden die Sänger auf diese Weise
zum funktionalen Bestandteil der Komposition gemacht, gewinnen die
Rezitative des "Abschieds" eine ganz neue, starke Wirkung: als aus dem
Zusammenhang herausgehobene Aussprache des empfindenden Subjekts.
Sicherlich ließe sich manches in der orchestralen Ausführung geschmeidiger,
selbstverständlicher vorstellen; das kann und wird noch besser werden. Aber
dass seine interpretatorischen Absichten erkennbar und schlüssig sind, das
hat Lothar Zagrosek anderen Dirigenten der Stadt voraus, die zunächst an
Glanz und Geschmeidigkeit denken.
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