Der Bund,  27.08.2005
MARIO GERTEIS
Beethoven: Missa Solemnis, Lucerne Festival 25.8.2005
Opulentes Fresko
Beethovens Missa Solemnis als Auftakt zum Cleveland-Gastspiel beim Lucerne Festival
Nach diversen – wegen des Hochwassers – gestrichenen Konzerten zog am Donnerstagabend beim Lucerne Festival wieder der Alltag ein. Mit dem Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst erschien schliesslich eines der «Orchestras in Residence» im KKL.

Diesmal waren die Gäste vom Eriesee in Ohio – von 2004 bis 2006 gehören sie mit je drei Auftritten zu den orchestralen Hauptträgern des Luzerner Festivals – nicht nur mit einer Hundertschaft von Instrumentalisten angereist, sondern auch mit dem angeschlossenen Chor. Eine äusserst strebsame Amateurgemeinschaft (Einstudierung: Robert Porco), die sich gleich in opulentester Fülle, nämlich mit rund 150 Sängerinnen und Sängern, präsentierte. Und genau damit begannen die Probleme bei Ludwig van Beethovens Missa Solemnis. An der Grenze des Schlüssigen Denn es lässt sich kaum behaupten, dass Franz Welser-Möst – er ist seit drei Jahren Chef in Cleveland – den lockenden Versuchungen ausgewichen sei. Im Klartext: Beethovens Spätwerk, das ja auch sonst allerhand Probleme aufwirft (ist es noch eine geistliche Schöpfung oder nicht doch ein sakrales Drama für den Konzertsaal?), wurde zum gigantischen und damit einseitigen Fresko überhöht. Auf der Strecke blieben bis zu einem gewissen Grad Agilität und Transparenz.

Vielleicht ist Welser-Möst, der ja dem Zürcher Opernhaus seit zehn Jahren eng verbunden ist und dort kürzlich seinen Vertrag verlängert hat, inzwischen so sehr zum dirigierenden Theatraliker geworden, dass er solch dramatische Impulse auch in den Konzertsaal überträgt. Apropos Zürich: Dort in der Tonhalle hat David Zinman einen neuen und weitherum beachteten Beethoven-Interpretationsstil eingeführt: schlank die Tongebung, straff das rhythmische Gerüst, zügig der Ablauf. Nichts davon, oder jedenfalls sehr wenig, hat sich bei seinem Kollegen Welser-Möst niedergeschlagen. Das ist die alte Manier: pastos hier, kraftstrotzend dort – und immer mit schwerem, gewichtigem Sound. Natürlich betont Welser-Möst die Kontraste frappant, ja überdeutlich: die Tempi auseinander gerissen (das Benedictus äusserst langsam, der Anfang des Gloria fast verhetzt), die Dynamik auf die Extreme des sehr Leisen und des sehr Lauten ausgerichtet, wobei gerade im Fortissimo oft zu flächig, also mit wenig atmender Bewegung, argumentiert wird. Sicher, Welser-Möst badet nicht aus, er geht resolut vor, er versteht es, effektvoll zuzuspitzen – und gerät mit der vokalen Massierung doch immer wieder an die Grenze des Schlüssigen. Pompöse Klangentfesselung im Chorischen also, romantisch überhöht – heute fast schon ein Anachronismus. Immerhin, die vier prominenten Solisten, sie alle natürlich theatererfahren (Emily Magee, Yvonne Naef, Jonas Kaufmann und Michael Volle sind oft auch am Zürcher Opernhaus anzutreffen), wussten sich bravourös gegen den vehementen Ansturm der Gesangsmassen zu behaupten und eigenständige Akzente in diese Beethoven-Darbietung «wie von gestern» zu setzen.






 
 
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