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Nürnberger Zeitung |
Thomas Heinold |
Beethoven: 9. Sinfonie, Berlin, 28. August 2004
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Erkaltete Musik der Einheit
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Beethovens 9. Sinfonie, die „Ode an die Freude“ war einst
die Begleitmusik zu Mauerfall und Deutscher Einheit. Jetzt, wo das Projekt
wieder einmal in der Krise zu sein scheint, Hartz IV einen neuen Keil ins
Land zu treiben droht und angeblich die Mehrheit der Ostdeutschen sich
nach dem Sozialismus zurücksehnt, wird es unversehens zum Politikum, wenn
Sir Simon Rattle die neue Konzertsaison der Berliner Philharmoniker mit
der Neunten eröffnet.
Vor den Türen der Philharmonie haben Demonstranten das Banner „Keine
Veranstaltung für Arme“ entrollt, drinnen erscheint von Bundespräsident
Horst Köhler bis zu Wolfgang Schäuble Politikprominenz, so als wollte
diese sich wieder einmal einen musikalischen Vitaminstoß in puncto längst
verflogener Einheitseuphorie holen. Doch solch ein emotionaler
Ausnahmezustand lässt sich nicht planen: Einst, bei Leonard Bernsteins
legendären Aufführung der Neunten kurz nach dem Mauerfall wurde die Musik
getragen von überschäumender Begeisterung. Heute, wo die kühlen,
Business-Türme der Philharmonie nahe auf den Pelz gerückt sind, wirkt
diese Sinfonie eher wie ein musikalischer Erlebnispark.
Sie glänzt auf hohem Niveau, aber die Effekte wirken kalkuliert, etwa wenn
Rattle das einleitende Allegro sehr gewagt auf seine rhythmische
Elastizität testet oder im Adagio Klangfährten legt, die von Bach bis
Wagner reichen. Das ist alles auf höchstem Niveau musiziert, wirkt aber,
wenn Rattle die Pausen zu Zäsuren macht, die darauf folgenden Takte
besonders langsam angeht auch reichlich maniriert. Und auch der Gesang des
Rundfunkchors Berlin sowie der vier Solisten, Christiane Oelze (Sopran),
Birgit Remmert (Alt), Jonas Kaufmann (Tenor), John Relyea (Bass), klingt,
gerade weil er technisch so makellos ist, mehr wie eine kühle
Selbstbestätigung eigenen Könnens, wie ein musikalisch behauptetes „Wir
schaffen das“.
Nüchterne Stimmung
Der Applaus sprudelte reichlich, doch im Jahr 14 der Vereinigung wurde
deutlich, dass die einstige Begleitmusik der Einheit schon längst nicht mehr
ausreicht, um die Herzen im kalt gewordenen Land zu erwärmen. In diese
nüchterne Stimmung passten Schönbergs plastisch und mit dramatischer
Binnenspannung musizierten „Variationen für Orchester op. 31“, die den Abend
eröffneten, viel besser, denn diese komplexe 12-Ton-Konstruktion spricht den
Intellekt mehr an als die Emotion. So ist es letztlich auch mit der
Deutschen Einheit: Sie ist schon lange von einem Freudenfest zu einer Sache
der Vernunft geworden. |
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