Klassik in Berlin
Von Ingo Bathow
Berlioz: La damnation de Faust, Berlin ab 4. Dezember 2003
Monumentales Musikdrama: Berlioz' Faust in der Philharmonie
06. Dezember 2003
Philharmonie

Mitwirkende
Berliner Philharmoniker
Rundfunkchor Berlin
Charles Dutoit - Dirigent
Ruxandra Donose - Marguerite
Jonas Kaufmann - Faust
Willard White - Méphistophélès
Jonathan Lemalu - Brander
Kinderchor und Schulchöre
Simon Halsey - Einstudierung
 
 Es gibt musikalische Momente, die vergisst man nicht - ein ganzes Leben lang. Für 250 Kinder und Jugendliche, die zum erhebenden Abschluss von Hector Berlioz' dramatischer Legende La Damnation de Faust in den großen Saal der Philharmonie einzogen, weiß gewandet, vierstimmig rein die Erlösungsworte der Seraphinen singend, muss es ein solcher Moment gewesen sein. Um gar nicht von den Scharen der stolzen Eltern und ergriffenen Zuhörer mit tränenbefeuchteten Augen zu sprechen.

Für das paradiesische Berlioz-Finale firmierte das im vergangenen Jahr von Simon Rattle ins Leben gerufene "Education Programm" der Berliner Philharmoniker mit seinem dem Digitalzeitalter angepassten Namen - Zukunft@Bphil. Dank der akribischen Organisation der Projektassistentin Larissa Israel wurden die singenden Jungtalente aus dem Werner-von-Siemens-Gymnasium, der Berlin International School, der Caspar-David-Friedrich-Oberschule, dem Knabenchor Berlin und dem Mädchenchor Berlin fachmännisch vom Chefdirigenten des Rundfunkchor Berlin, Simon Halsey, und zahlreichen professionellen Helfern auf das Zusammenwirken mit Profi-Orchester und -Chor vorbereitet.

Entsprachen die kosmischen Dimensionen - mit weit über 400 Mitwirkenden - präzise den Gegebenheiten des kolossalen Raumes und den Intentionen des genialen und selbstbewussten Tonschöpfers, so war es die eigentliche Aufgabe des Schweizer Gastdirigenten Charles Dutoit, Akzente zu setzen. Würde er die "dramatische Legende" vor allem als konzertante Oper mit dem schicksalhaften Ringen der Vokalsolisten, als weltliches Oratorium mit der vielgestaltigen Wirkung des Chores auf die Emotionen, oder als sinfonische Dichtung interpretieren, in der die Vokalpartien fast wie ein untergeordnetes instrumentales Particell in die Partitur einflossen? Fakten schafften in dieser Hinsicht schon die unausgeglichenen Kräfteverhältnisse der Mitwirkenden. Weit entfernt von der sanglichen Strahlkraft etwa der Grande Opéra schienen die Hauptsolisten nämlich einem lyrisch-poetischen Ideal zu huldigen, ihre an kleineren Räumlichkeiten orientierten Ausdrucksnuancen drohten deswegen über weite Strecken in den sinfonischen Klangfluten der Philharmoniker rundweg unterzugehen.

Selten hat man einen so sensiblen, introvertierten Faust gehört wie den jungen Münchner Tenor Jonas Kaufmann. Es entspricht durchaus dem Nihilismus unserer Zeit, dass der gelangweilte Jüngling Faust, der seine mangelnde Fähigkeit, sich aus Malaise mit der Welt in seinem Arbeitszimmer das Leben zu nehmen, sogar mit fast gehauchter Kopfstimme in den hohen Registern illustrierte, später für die kurzfristige Erleichterung seines Liebesleids kurzerhand sein Seelenheil verschenkte. Aber diese "no-future"-Einstellung ist nicht alles bei Berlioz - weitaus deutlicher wäre im Ringen mit Mephistopheles und später in der Liebesekstase mit Marguerite die charakterliche Entwicklung herauszuarbeiten, die ihm die Schuldfähigkeit verleiht, bewusst und mit ritterlicher Geste in sein Verderben zu reiten.

Nie hat es ein Mephistopheles leichter gehabt als der aus Jamaika stammende Willard W. White, sein Opfer mit einer gewissen Bonhomie zu düpieren, die weniger an einen finsteren Dämonen erinnerte als an einen lebenslustigen "Sporting Life", der etwa mit einem leichten Hüftschwung zu den Worten "il te tend les bras" die sexuelle Verführung veranschaulichte. Beide Gegenspieler sangen zum Publikum, schienen also kaum in eine dramatische Interaktion zu treten. Wie ein Fels in der Brandung strahlte dagegen Ruxandra Donose Ruhe aus, spielte mit klarer mozärtlicher Linienführung ihres Mezzosoprans eher die Heilige als die Verzweifelte, während ihrem Gegenüber Jonas Kaufmann weit überzeugender die Seufzer des Leidenden gelangen. Keiner der Solisten spielte die dramatischen Möglichkeiten seiner Rolle voll aus - mit Ausnahme des Neuseeländers Jonathan Lemalu, der als der trinkfreudige Student Brander in Auerbachs Keller gestenreich die Ratte im Ofen rotieren ließ, quasi als Omen für das Schicksal, das den Hauptdarsteller ereilen sollte.

Als eigentlicher Mittelpunkt und Träger der dramatischen Handlung erwiesen sich jedoch die Berliner Philharmoniker. Wie es bei Gastdirigenten leicht vorkommt, spielte es für das Zusammenwirken mit den Solisten gelegentlich um einige Abstufungen zu laut, auch traten im Unisono der Violinen zweimal geringfügige Unsauberkeiten auf, die Sir Simon so nicht hätte durchgehen lassen. Dennoch blieb stets eine unglaubliche Präzision spürbar, wie sie nur ein Orchester der Weltspitze erreichen kann - trotz der begrenzten Probenzahl und vorzugsweise bei komplizierten rhythmischen Strukturen und Einwürfen. Der Ausdruckskraft des Orchesters waren die elysischen Landschaften zu verdanken, in deren Anblick Faust schwelgte, ebenso wie das in der Musikgeschichte einmalige synästhetische Flackern der Irrlichter oder die geradezu halluzinatorische Wucht des Höllenritts. Das Publikum würdigte durchaus auch die "lieblichen" Momente und bedachte den Englischhornsolisten mit besonderem Applaus für dessen ungemein gefühlvolle Zwischenspiele in Marguerites Romanze "Meine Ruh' ist hin" ("D'amour l'ardente flamme").

Ebenso kann die Leistung des Rundfunkchor Berlin nicht hoch genug eingeschätzt werden, gelang doch den nur wenig unter 90 Stimmen ein fast unbegrenztes Ausdrucksspektrum zwischen den Chören der Landleute, der Soldaten und Studenten, der Gnomen und Sylphen, der Dämonen der Hölle und der himmlischen Heerscharen. Besonders effektvoll hatte Simon Halsey die beißenden parodistischen Episoden herausgearbeitet - niemandem entging die humoristische Huldigung an Johann Sebastian Bach, so einprägsam wie sie die Chorprofis als Leipziger Studenten im Requiem auf die geröstete Ratte vortrugen. Ebenso hinreißend, in seinem Überschwang überzeugend klang der Triumphgesang der Höllengeister ("Irimiru Karabrao! Has! Has!"), als hätte jemand eine infernalische Chorprobe belauscht - im Gegensatz zur entscheidenden Frage der Fürsten der Finsternis, von allen Männerstimmen unisono gesungen, ob die fatale Unterschrift Faustens nun ewige Gültigkeit habe. Diese Stimmenfanfare hätte statt mit der Klarheit einer Tagesschau-Ansage vielleicht noch dräuender, noch unheimlicher ausfallen können, wie aus den emotionalen Abgründen von Giuseppe Verdis Requiem. Dennoch - eine intensivere und engagiertere Interpretation von Berlioz' Meisterwerk ist kaum denkbar.

Als dann die Kinder zu himmlischen Harfenklängen einzogen, war die Seele der Zuhörer in ihrem tiefsten Grunde geläutert.






 
 
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