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Der Tagesspiegel, 29. Juli
2003 |
Frederik Hanssen |
Die Entführung aus dem Serail, Salzburg 2003
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Im Anfang war der Zweifel
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Salzburger Festspiele (1):
Stefan Herheim verbannt Mozarts „Entführung“ aus dem Orient – und inszeniert
ein psychologisches Experiment |
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Worum
geht es eigentlich in Mozarts „Entführung aus dem Serail“? Steht der
Konflikt zwischen Orient und Okzident wirklich im Mittelpunkt dieses
„deutschen Singspiels“ von 1781? Oder geht es trotz allem
modisch-muselmanischen Lokalkolorit (die Türkenbelagerung war den Wienern
noch lebhaft in Erinnerung) nicht doch eher um das Liebesleben zweier
europäischer Paare?
Belmonte, ein junger spanischer Adliger aus bestem Hause, hat sich auf dem
Weg gemacht, um seine Verlobte Konstanze zu retten, die gemeinsam mit ihrer
Dienerin Blonde und dem Lakaien Pedrillo von Seeräubern verschleppt und an
den Bassa Selim verkauft worden ist. Er gibt sich als Baumeister aus und
verschafft sich Zugang zum Serail – denn der gebildete Potentat ist allen
Künsten zugetan. Osmin, der brutale Oberaufseher, wird mittels Alkohol außer
Gefecht gesetzt, die Leitern zur Entführung stehen schon bereit.
Doch Belmonte wie Pedrillo beginnen plötzlich, an der Treue ihrer Geliebten
zu zweifeln – geht vom noblen Bassa nicht eine Faszination aus, der
Konstanze vielleicht doch erlegen ist? Hat sich Osmin, der die Blonde als
„Geschenk“ von seinem Herrn erhielt, sein Besitzrecht erzwungen? Wieviel
Zukunft haben die Paare nach diesem doppelten Vertrauenszusammenbruch noch?
Und man muss sich fragen,was für ein Leben sie wohl führen werden, zu Hause
in Spanien, wohin der noble Türke sie entlassen hat, nachdem ihr
Fluchtversuch zwar an seinen Wachen gescheitert war, aber sein Großmut ihnen
dennoch den Weg freimachte in die bürgerliche Ehe.
1997, bei der letzten Salzburger „Entführung“, interpretierte Regisseur
François Abou Salem das Werk als Geschichte aus dem Nahen Osten, mit viel
Stacheldraht und arabischen Schriftzeichen, die wie ein Zeltdach über der
Bühne schwebten. Vor wenigen Wochen hat Jerome Deschamps beim
Konkurrenzfestival in Baden-Baden (das sich Herbert-vonKarajan-Festspiele
nennen darf) die „Entführung“ zur Posse aus Tausendundeine Nacht
verniedlicht und mit Kalauern überschüttet. Am peinlichsten geriet ihm
ausgerechnet die Schlüsselszene, das Quartett im Finale des ersten Aktes,
wenn der erste Schatten des Zweifels auf die Protagonistenpaare fällt: Da
mussten Belmonte und Konstanze mit den Armen rudern, um die scheinbar so
barock-verzopfte Verhaltensweise des hohen Paares zu karikieren –doch sie
entlarvten mit ihrem Gehampel nur die Unfähigkeit des Regisseurs, den Text
genau genug zu lesen und auf die Mitteilungen der Musik zu hören.
Sündenfall mit Body-Double
Stefan Herheim, der 32-jährige Norweger, der Mozarts Singspiel zur Eröffnung
der diesjährigen Salzburger Festspiele im Kleinen Festspielhaus
herausbringt, entwickelt seine Interpretation genau aus jener vermeintlich
so schablonenhaften Szene: Sie ist ihm sogar so wichtig, dass er die Pause
nach vorne verlegt und Pedrillo im Dialog vor seinem „Frisch zum Kampfe“
unterbricht, um das Quartett nach der Unterbrechung noch deutlicher in den
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken.
Herheim nämlich erklärt das ganze Orient-Geklingel als überflüssig zum
Verständnis der Geschichte. Ja, sogar der Bassa Selim ist ihm entbehrlich.
Darum hat er sich von Gottfried Pilz ein abgeschabtes bürgerliches
Wohnzimmer bauen lassen und die Sprechrolle gestrichen. Denn dieser fremde
Herrscher, findet der Regisseur, existiere nur in den Köpfen der handelnden
Personen. Als befremdliche Vision beherrscht er die Fantasie der Paare.
Bassa sei der Gegenentwurf zu dem Leben, das sie führen, und repräsentiere
die Verlockung, die Alternative.
Vor den Augen der internationalen Musiktheater-Schickeria samt Prince
Charles und Camilla Parker Bowles beginnt Stefan Herheim mit seiner Exegese
buchstäblich bei Adam und Eva. Nackt, wie der Herr sie erschuf, treten
Belmonte und Konstanze (in Gestalt von Body-Doubles) während der Ouvertüre
vors verblüffte Publikum. Doch der Sündenfall ist schnell vorbei, die Zwei
werden von einer johlenden Menge Heiratswilliger in Frack und Brautkleid
gezwängt und vor Osmin geschleppt, der zum schwarzberockten Gottesmann
mutiert ist. Stellvertretend für die versammelten Junggesellen formuliert
Belmonte nun die Ängste des Bräutigams in der Nacht vor der Hochzeit: „Wie
soll ich sie sehen? Wie sie sprechen?“
Es sind die Originalworte des Librettos von Johann Gottlieb Stephanie des
Jüngeren, in denen plötzlich neuer, moderner Sinn pocht. Kurz, bevor sie
sich für immer verbinden, ergreift die Figuren Panik. Was habe ich gemein
mit der Frau, mit der ich die Ringe tauschen soll? Was, wenn wir ganz
schnell im Kinder-Küche-Karriere-Sumpf versinken, wenn die Träume verrauchen
und wir morgens als Fremde nebeneinander aufwachen!
Natürlich ist Stefan Herheims „Entführung“ eine Provokation. Der mutige
Norweger, der bei Götz Friedrich in Berlin Musiktheaterregie studiert hat
und zuletzt am Essener Aalto-Theater mit einer sensationellen Umdeutung von
Bellinis „Puritani“ reüssierte (die er als höchst unterhaltsame
Hinterzimmerstory aus der Pariser Opéra inszenierte), Stefan Herheim also
dürfte das Buh-Gewitter am Ende der Vorstellung mit jugendlicher Chuzpe
verkraften. Und Peter Ruzicka, seit einem Jahr als Nachfolger von Gerard
Mortier Intendant der Salzburger Festspiele, könnte sich womöglich gar die
Hände reiben angesichts des zu erwartenden Echos. Denn „restaurativ“, wie
mancher seine Programmplanung genannt hat, ist diese „Entführung“ in ihrer
psychologischen Neudeutung gewiss nicht. Die Rückkehr zur Kulinarik
jedenfalls, die sie sich manche Augenzeugen der Ära Karajan noch immer
sehnlichst wünschen, findet zum Festspielauftakt 2003 nicht statt.
Musikalisch hat selbst der verwöhnteste Opernaficionado nichts auszusetzen.
Ivor Bolton fordert das Salzburger Mozarteum Orchester bis zum Äußersten,
lässt rasant, oft auch ruppig und niemals mozartkugelig spielen. Bolton, der
mit dem Münchner Opernorchester manche Heldentat im Barockrepertoire
vollbracht hat, weiß, wie man traditionellen Ensembles den Sound der
historischen Aufführungspraxis entlockt. Und weil er ab Herbst der neue
Chefdirigent des Mozarteum Orchesters ist, legen sich die Musiker besonders
ins Zeug.
Basta ohne Bassa
Auch Diana Damrau, die neue Diva unter den Koloratursopranistinnen, lässt
sich als Blonde auf jede Verrenkung ein, ohne dass ihr dabei ein Spitzenton
abhanden käme. Jonas Kaufmann gibt einen heldischen, tenoral furchtlosen
Belmonte, Dieter Kerschbaum sekundiert ihm als nicht minder mutiger
Pedrillo. Eine strenge, auch vokal herbe Schönheit ist Iride Martinez
(Konstanze), der typische polternde Koloss dagegen Peter Rose als Osmin.
Allesamt Spitzensänger also, die sich gewiss nicht ohne weiteres auf gewagte
Interpretationen einlassen. Ihr rückhaltloses Engagement spricht für die
Probenarbeit des jungen Herheim.
Dennoch ist sein Salzburger Coup in der Rezeptionsgeschichte der „Entführung
aus dem Serail“ eher ein Seitschritt als ein Fortschritt. Denn Herheim
verzettelt sich im eigenen Ideenreichtum, überfrachtet die Szene mit
Einfällen (und äußerst lässlichen Videoprojektionen der Berliner
Produktionsfirma fettFilm) und lässt sich dazu hinreißen, über Gebühr
Slapsticks einzubauen. So zerfällt der lange Abend eigentlich in zwei
Inszenierungen: in eine ernste, die auf bewegende Weise nach dem Sinn und
den Risiken dauerhafter Liebesverbindungen fragt, und in eine
komödiantische, die das Singspiel mit tausenderlei Gags als Möglichkeit
zeitgenössischen Musiktheaters retten will. Jede Ebene für sich bietet
lohnenswerte Details, als Parallelhandlungen aber streben sie auseinander.
Und wie windet sich Herheim am Ende heraus, ohne den Begnadigungsschluss
durch den Bassa? Er bedient sich dabei eines Tricks, den er schon vorher
angewendet hat: Er lässt die Librettoverse von Mund zu Mund vagabundieren.
Mal spricht dieser mit Bassas Zunge, mal jener, bis Pfarrer Osmin der Kragen
platzt – und er zusammenzwingt, was vielleicht gar nicht zusammengehört.
Unter den finalen Jubelklängen findet vor der Kulisse von Salzburg eine
Massentrauung statt. Ob dieses Ende versöhnlich gemeint ist, bleibt offen
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Für Stefan Herheim ist es manchmal auch
ein fauler. |
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