Neue Züricher Zeitung, 11.09.2000
Marianne ZelgerVogt
Paër: Leonora, Winterthur, Premiere 9. September 2000
Rettungsoper ohne Freiheitsvision
Ferdinando Paërs «Leonora» in Winterthur

Das Stück ist, in der Fassung Beethovens, Allgemeingut. Doch die Musik kennt kaum jemand: Mit Ferdinando Paërs «Leonora ossia L'amor coniugale», der direkten Vorläuferin von Beethovens «Fidelio», präsentiert das Zürcher Opernhaus zur Saisoneröffnung im Winterthurer Theater am Stadtgarten eine echte Rarität.

Was wäre, wenn "Fidelio" nicht existierte? Hätte Ferdinando Paërs "Leonora", 1804, ein Jahr vor der Erstfassung von Beethovens Oper uraufgeführt und auf derselben Textvorlage von Bouilly basierend, überlebt? In Winterthur lernt man ein ganz eigenständiges, gut gebautes und melodienreiches Stück kennen, dem es weder an musikalischem Gehalt noch an Wirkung fehlt. Doch schon während der Ouverture versteht man, weshalb Beethovens Vertonung die italienische Version so bald in den Schatten stellte: Der grosse dramatische Atem, die visionäre Kraft, die ethische Dimension, die Beethoven dem Stoff verlieh, sind Paër fremd (und fehlen ja weitgehend auch in der Erstfassung von "Fidelio").

Die Geschichte von Leonora, die sich als Mann verkleidet, um ihren Gatten aus dem Gefängnis zu befreien, bleibt hier ein - aussergewöhnliches, ergreifendes - Einzelschicksal, sie wird weder zum Aufschrei gegen Tyrannei noch zur Freiheitshymne. Bezeichnenderweise gibt es in "Leonora" auch keine Chöre, die das individuelle zum kollektiven Schicksal machen. Eklatant sind die Unterschiede zu Beginn des zweiten Aktes: Vorspiel, Rezitativ und Arie des in Ketten liegenden Florestano erinnern stimmungsmässig ganz an die Parallelstelle bei Beethoven, ohne jedoch in der Vision eines rettenden Engels zu kulminieren.

Paërs Stärke sind die sorgfältig und phantasievoll ausgearbeiteten Einzelszenen, aus deren Abfolge die dramatische Steigerung resultiert. Diese Qualitäten werden bei der Schweizer Erstaufführung von "Leonora" in Winterthur klar herausgestellt. Einerseits durch den Dirigenten Nicholas Cleobury und das Orchester des Musikkollegiums, die Paërs Partitur körperhaft und kontrastreich, mit straffen Tempi und sattem, warmem Klang ausmusizieren und aus den zahlreichen solistischen Einwürfen eigentliche Glanzlichter machen. Eine analoge Genauigkeit des Erzählens prägt, anderseits, die Regie von Michael Sturminger. Das Bühnenbild von Renate Martin und Andreas Donhauser, das mit seinen Beton und Metallelementen die Architektur des Theaters am Stadtgarten zitiert, während der blaue Himmelsausschnitt an der rechten Seitenwand die Hoffnung symbolisiert, gibt optimalen Einblick in das Geschehen, und die Lichtgestaltung von Franz Orban erzeugt mit ihren Schattenwirkungen Stimmungshaftigkeit. In dieser Ausstattung könnte man auch "Fidelio" spielen.

Wie bei seiner vor vier Jahren am selben Ort gezeigten Rossini Einstudierung "Tancredi" verlegt Sturminger die Handlung in die Gegenwart, erreicht damit aber diesmal Zeitlosigkeit. Über dem Eingangstor des Staatsgefängnisses liegt eine Kommandozentrale mit modernster Sicherheitstechnologie. Während der Ouverture nähert sich Leonora dem Eingang, sieht an der Wäscheleine Männerkleider und verwandelt sich mit diesen aus spontanem Entschluss in Fedele. So führt Sturminger das Motiv des Geschlechtertauschs ein, das er im Folgenden als Kleidertausch leitmotivartig weiterentwickelt.

Seine Figurenzeichnung wirkt allerdings nicht einheitlich. Leonora/Fedele und Florestano werden durch Iulia Isaev und Robert (der Name Jonas gefällt mir aber besser :-)) Kaufmann nahe an das überlebensgrosse Protagonistenpaar Beethovens herangeführt. Iulia Isaevs dunkel getönter Sopran verströmt Wärme und emotionale Kraft und bewahrt sich zugleich für die Cembalobegleiteten Rezitative und die verästelten Koloraturen die erforderliche Agilität. In der Höhe allerdings verengt sich die Stimme. Gewinnt Isaevs Leonora Intensität durch konzentrierte Ruhe, so spielt Jonas Kaufmann die leidenschaftlichen Gefühle des eingekerkerten Florestano aus und beglaubigt sie durch seinen expressiven und expansionsfähigen Tenor.

Elizabeth Magnusons Marcellina, mit strohblondem Haar und im billigen Kleidchen puppenhaft wirkend, wünschte man sich stimmlich inniger und resonanzreicher, zumal die Figur bei Paër mehr Gewicht hat als bei Beethoven. Sie ist es, die den Minister Don Fernando (von Kenneth Roberson mit einem edlen, lyrischen Tenor ausgestattet) in Florestanos Verliess holt und zur eigentlichen Retterin wird. Der Gefängnisvorsteher Rocco ist auch bei Paër eine zwiespältige Figur, wie Oliver Widmers leicht unecht wirkendes Spiel und sein bei allem Nachdruck wenig konturierter Bariton verraten. Dass der vergeblich um Marcellina werbende Schliesser Giachino hier kein Tenor, sondern ein Bass ist, wirkt selbstverständlich, weil Jacob Wills Stimme jung und leicht klingt. An den ebenfalls in Tenorlage singenden Don Pizarro gewöhnt man sich nicht so leicht, obwohl Roberto Iuliano den Bösewicht mit pointierter Deklamatorik charakterisiert. - Die mit viel Beifall aufgenommene Winterthurer Premiere hat den Nachweis erbracht, dass "Leonora" mehr als bloss historisches Interesse verdient.
Marianne ZelgerVogt Winterthur, Theater am Stadtgarten, 9. September. Weitere Aufführungen am 11., 13., 15. und 17. September.






 
 
  www.jkaufmann.info back top