Das
Stück ist, in der Fassung Beethovens, Allgemeingut. Doch die Musik kennt
kaum jemand: Mit Ferdinando Paërs «Leonora ossia L'amor coniugale», der
direkten Vorläuferin von Beethovens «Fidelio», präsentiert das Zürcher
Opernhaus zur Saisoneröffnung im Winterthurer Theater am Stadtgarten eine
echte Rarität.
Was wäre, wenn "Fidelio" nicht existierte? Hätte Ferdinando Paërs
"Leonora", 1804, ein Jahr vor der Erstfassung von Beethovens Oper
uraufgeführt und auf derselben Textvorlage von Bouilly basierend,
überlebt? In Winterthur lernt man ein ganz eigenständiges, gut gebautes
und melodienreiches Stück kennen, dem es weder an musikalischem Gehalt
noch an Wirkung fehlt. Doch schon während der Ouverture versteht man,
weshalb Beethovens Vertonung die italienische Version so bald in den
Schatten stellte: Der grosse dramatische Atem, die visionäre Kraft, die
ethische Dimension, die Beethoven dem Stoff verlieh, sind Paër fremd (und
fehlen ja weitgehend auch in der Erstfassung von "Fidelio").
Die Geschichte von Leonora, die sich als Mann verkleidet, um ihren Gatten
aus dem Gefängnis zu befreien, bleibt hier ein - aussergewöhnliches,
ergreifendes - Einzelschicksal, sie wird weder zum Aufschrei gegen
Tyrannei noch zur Freiheitshymne. Bezeichnenderweise gibt es in "Leonora"
auch keine Chöre, die das individuelle zum kollektiven Schicksal machen.
Eklatant sind die Unterschiede zu Beginn des zweiten Aktes: Vorspiel,
Rezitativ und Arie des in Ketten liegenden Florestano erinnern
stimmungsmässig ganz an die Parallelstelle bei Beethoven, ohne jedoch in
der Vision eines rettenden Engels zu kulminieren.
Paërs Stärke sind die sorgfältig und phantasievoll
ausgearbeiteten Einzelszenen, aus deren Abfolge die dramatische Steigerung
resultiert. Diese Qualitäten werden bei der Schweizer Erstaufführung von
"Leonora" in Winterthur klar herausgestellt. Einerseits durch den
Dirigenten Nicholas Cleobury und das Orchester des Musikkollegiums, die
Paërs Partitur körperhaft und kontrastreich, mit straffen Tempi und
sattem, warmem Klang ausmusizieren und aus den zahlreichen solistischen
Einwürfen eigentliche Glanzlichter machen. Eine analoge Genauigkeit des
Erzählens prägt, anderseits, die Regie von Michael Sturminger. Das
Bühnenbild von Renate Martin und Andreas Donhauser, das mit seinen Beton
und Metallelementen die Architektur des Theaters am Stadtgarten zitiert,
während der blaue Himmelsausschnitt an der rechten Seitenwand die Hoffnung
symbolisiert, gibt optimalen Einblick in das Geschehen, und die
Lichtgestaltung von Franz Orban erzeugt mit ihren Schattenwirkungen
Stimmungshaftigkeit. In dieser Ausstattung könnte man auch "Fidelio"
spielen.
Wie bei seiner vor vier Jahren am selben Ort gezeigten Rossini
Einstudierung "Tancredi" verlegt Sturminger die Handlung in die Gegenwart,
erreicht damit aber diesmal Zeitlosigkeit. Über dem Eingangstor des
Staatsgefängnisses liegt eine Kommandozentrale mit modernster
Sicherheitstechnologie. Während der Ouverture nähert sich Leonora dem
Eingang, sieht an der Wäscheleine Männerkleider und verwandelt sich mit
diesen aus spontanem Entschluss in Fedele. So führt Sturminger das Motiv
des Geschlechtertauschs ein, das er im Folgenden als Kleidertausch
leitmotivartig weiterentwickelt.
Seine Figurenzeichnung wirkt allerdings nicht einheitlich. Leonora/Fedele
und Florestano werden durch Iulia Isaev und Robert (der Name Jonas
gefällt mir aber besser :-)) Kaufmann nahe an das
überlebensgrosse Protagonistenpaar Beethovens herangeführt. Iulia Isaevs
dunkel getönter Sopran verströmt Wärme und emotionale Kraft und bewahrt
sich zugleich für die Cembalobegleiteten Rezitative und die verästelten
Koloraturen die erforderliche Agilität. In der Höhe allerdings verengt
sich die Stimme. Gewinnt Isaevs Leonora Intensität durch konzentrierte
Ruhe, so spielt Jonas Kaufmann die leidenschaftlichen Gefühle des
eingekerkerten Florestano aus und beglaubigt sie durch seinen expressiven
und expansionsfähigen Tenor.
Elizabeth Magnusons Marcellina, mit strohblondem Haar und im billigen
Kleidchen puppenhaft wirkend, wünschte man sich stimmlich inniger und
resonanzreicher, zumal die Figur bei Paër mehr Gewicht hat als bei
Beethoven. Sie ist es, die den Minister Don Fernando (von Kenneth Roberson
mit einem edlen, lyrischen Tenor ausgestattet) in Florestanos Verliess
holt und zur eigentlichen Retterin wird. Der Gefängnisvorsteher Rocco ist
auch bei Paër eine zwiespältige Figur, wie Oliver Widmers leicht unecht
wirkendes Spiel und sein bei allem Nachdruck wenig konturierter Bariton
verraten. Dass der vergeblich um Marcellina werbende Schliesser Giachino
hier kein Tenor, sondern ein Bass ist, wirkt selbstverständlich, weil
Jacob Wills Stimme jung und leicht klingt. An den ebenfalls in Tenorlage
singenden Don Pizarro gewöhnt man sich nicht so leicht, obwohl Roberto
Iuliano den Bösewicht mit pointierter Deklamatorik charakterisiert. - Die
mit viel Beifall aufgenommene Winterthurer Premiere hat den Nachweis
erbracht, dass "Leonora" mehr als bloss historisches Interesse verdient.
Marianne ZelgerVogt Winterthur, Theater am Stadtgarten, 9. September.
Weitere Aufführungen am 11., 13., 15. und 17. September. |