BR Klassik, 15.06.2020
von Antonia Goldhammer
Sendung: "Allegro" am 16. Juni 2020 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
 
Star-Tenor Jonas Kaufmann über seine neue "Otello"-Aufnahme
"Otellos Hautfarbe ist sein Stigma"

Als "Mount Everest" hat der Tenor Jonas Kaufmann die Rolle des "Otello" in der gleichnamigen Oper von Giuseppe Verdi einmal bezeichnet. Nun zeigt er seine Interpretation der komplexen Figur in einer neu erschienenen Studioaufnahme mit dem Orchestra e Coro dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter der Leitung von Antonio Pappano.

BR-KLASSIK: Sie haben die Rolle des Otello einmal als “Mount Everest" bezeichnet. 2017 haben Sie ihn in London das erste Mal "bestiegen". Ist der schwierige Aufstieg seitdem leichter geworden?

Jonas Kaufmann: Sagen wir so: Mittlerweile erklimme ich diesen Berg ohne Sauerstoffgerät, während bei der Erstbesteigung noch jede Menge Euqipment nötig war. Aber die Rolle wird nie leicht. Verdi hat diesen Shakespeare-Charakter so unglaublich direkt und schnörkellos umgesetzt. Wir sehen den Menschen, wie er wirklich ist, mit all seinen Schwächen und seiner Boshaftigkeit. Das ist erschreckend, weil es so unglaublich realistisch wirkt.

BR-KLASSIK: Welche Gefühle haben Sie Otello gegenüber?

Jonas Kaufmann: Ich höre immer wieder, dass man keine Sympathie für diesen Menschen empfinden könne, weil er ja ein böser Mörder ist. Ich glaube, dass man als Interpret versuchen sollte zu erklären, wo das herkommt. Das heißt nicht, dass ich gutheiße, was Otello tut, aber ich versuche mir zu überlegen, warum jemand glaubt, er müsse seine Frau ermorden.

BR-KLASSIK: Und was steckt Ihrer Meinung nach dahinter?

Jonas Kaufmann: Für mich ist die Lösung relativ klar: Einerseits ist Otello, obwohl er ein großer Kriegsheld ist, wahnsinnig unsicher aufgrund seiner Hautfarbe. Er hat sich in der Gesellschaft nur über seinen Erfolg definiert und nach oben gearbeitet. Dadurch wiederum hat er seine Frau kennengelernt. Und letztlich, so glaubt er, warten alle auf den Moment, wo sie ihn fallen lässt. Dieser Gesichtsverlust wäre für ihn das Ende, weil dann eben diese Schleuse losbricht für alle Zweifler und Kritiker, die ihm nur Böses wollen – zumindest sieht er das so.

BR-KLASSIK: Und andererseits?

Andererseits spielt seine Kultur eine große Rolle. Sie erlaubt ihm ja, dass er im Ehrenmord töten kann, ohne bestraft zu werden. Als er am Ende merkt, welchen Fehler er begangen hat, kann man wirklich einen Einblick in die zerbrechliche Seele von Otello erhaschen, wenn eben nicht dieses testosterongesteuerte, dominante Kriegertum alles abdeckt. Und Otello ist ja auch unglaublich unsicher und ringt um Worte, um Desdemona seine Liebe zu gestehen, weil er einfach auf diesem “Schlachtfeld der Liebe” wesentlich unerfahrener ist als auf jedem anderen Schauplatz der Welt. Wenn man das alles berücksichtigt, versteht man schon, warum Verdi Otello diesen unglaublich rührenden Schluss gegönnt hat und nicht mit dem Mord an Desdemona die Oper einfach beendet hat.

BR-KLASSIK: Wir haben in den letzten Wochen leider mit Erschrecken feststellen müssen, dass es nach wie vor notwendig ist, Rassismusdebatten zu führen. Inwiefern ist es denn aus Ihrer Sich von Belang, welche Hautfarbe Otello hat?

Jonas Kaufmann: Ich glaube, Otellos Hautfarbe ist schon wichtig für die Geschichte. Dadurch versteht man, warum er so unsicher ist und warum es für ihn so ungeheuer nötig ist, das Gesicht zu wahren. Denn er trägt im Gegensatz zu den anderen Protagonisten dieses "Manko" mit sich. Shakespeare lässt ja auch seinen Widersacher Jago die übelsten rassistischen Beschimpfungen ihm gegenüber äußern. Otello ist ein Outcast. Ob das an der Hautfarbe liegt, an der Religion oder daran, dass er ein Fremder ist und von woanders kommt, spielt eigentlich keine Rolle. Aber dass er sich nicht selbstverständlich als Teil der Gesellschaft sehen kann, das ist klar und wichtig. Das führt letztlich zur Zuspitzung der Ereignisse.

BR-KLASSIK: Sie haben "Otello" im Studio auf CD aufgenommen. Fehlt Ihnen da nicht das Publikum und die Spannung eines Opernabends?

Jonas Kaufmann: Eine Studioaufnahme ist superschwierig, keine Frage. Es ist ja nicht so, dass wir am ersten Tag morgens die Noten aufschlagen und sagen: So, jetzt fangen wir mal beim Sturm an und dann gegen wir langsam chronologisch durch. Nicht alle Sänger sind immer verfügbar, der Chor ist nur für bestimmte Tage eingeteilt, und es gibt auch im Orchester unterschiedliche Besetzungen, zum Beispiel werden für bestimmte Szenen zusätzliche Trompeten dazubestellt. An diesem Tag müssen dann alle Trompeten-Stellen aufgenommen werden. Dementsprechend springt man wild in den Akten hin und her, hat mitunter an einem Tag drei Szenen, die nichts miteinander zu tun haben, sodass man schon eine gewisse Erfahrung mitbringen muss. Auf der anderen Seite kann ich im Studio Dinge auch mal ausprobieren. Ich habe die Möglichkeit, jederzeit abzubrechen und wieder weiterzumachen. So kann man Dinge aus sich herauskitzeln, die man sich vielleicht in einer Liveaufführung vor Publikum nicht trauen würde. Aber natürlich vermisse ich das Publikum, und es ist wahnsinnig schwer, eine Aufführung für sich allein zu singen. Ich habe zwar das Orchester da sitzen, aber es ist nicht das Gleiche.

BR-KLASSIK: Künstler, die ihr Publikum vermissen – auch ein großes Thema in den vergangenen Monaten der Corona-Pandemie. Wie erleben Sie diese Zeit?

Jonas Kaufmann: Die ersten paar Wochen der Krise nennen wir Musiker ja "Berufsverbot". Immerhin bin ich in der glücklichen Lage, dass ich ein Haus habe, einen Flügel, keine Nachbarn, die sich beschweren, also kann ich zumindest üben und trainieren. Aber was nützt das, wenn ich die Kunst dann nicht den anderen zeigen kann? Die ersten Wochen hab ich sehr genossen, muss ich sagen. Es war letztlich wie eine Art "Zwangsurlaub". Ich glaube, dass ich niemals so viel am Stück Zuhause war – und das war sehr schön. Aber natürlich kommt dann der Punkt, wo man spürt: Ich vermisse das Auftreten, das Publikum, die Herausforderung, dass die Stimme einfach laufen muss. Wenn man das nicht hat, dann stellt sich doch ein gewisser Schlendrian ein.

BR-KLASSIK: Wie schätzen Sie allgemein die Folgen der Pandemie für Kunst und Kultur ein?

Jonas Kaufmann: Wenn es sich so weiter entwickelt, werden wir in der nächsten Saison noch deutliche Einschränkungen erleben. Ich habe schon Angst um die Kultur insgesamt, denn da ist schon viel weggebrochen – und es wird noch viel passieren. Viele junge Leute, die ein Instrument professionell erlernen wollen, werden sich vielleicht für andere Berufe entscheiden, weil sie merken, dass sich die Gesellschaft in der Not doch nicht so sehr für die Kultur interessiert. Und dann werden wir demnächst Nachwuchsprobleme haben, was sehr schade wär. Man wundert sich schon, wenn man sieht, dass ein Linienflieger vollgepackt mit Menschen, die Masken tragen, starten darf, aber man in der Oper trotz Maske zweieinhalb Meter Abstand zum Nachbarn haben muss. Da wird mit zweierlei Maß gemessen.
 
 
 






 
 
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