Eine Musik, die süchtig macht
Fanciulla
ist ja im Vergleich zu anderen Puccini-Opern weniger gefällig, wie
Heinrich Mann es formulierte. Die Partitur strotzt also nicht vor
Ohrwürmern. Ist dieser Zwischenapplaus-reduzierende Umstand für einen
Sänger nicht abschreckend?
Jonas Kaufmann:
Überhaupt nicht! Für mich ist La fanciulla del West eine der musikalisch
reichsten Opern, die Puccini geschrieben hat! Ich bin immer wieder
fasziniert von all den Farben und Facetten der Musik und von der Kunst
Puccinis, mit harmonischen Verschiebungen eine ganz spezifische
Atmosphäre zu schaffen. Nehmen Sie zum Beispiel den Schluss des ersten
Aktes: Das ist eine Musik, die mich süchtig macht. Eigentlich könnte die
Szene noch viel länger sein, jedenfalls geht sie mir viel zu schnell
vorbei. An anderen Stellen zeigt sich Puccini einmal mehr als Meister
der Architektur der großen Spannungsbögen. Wann immer man glaubt, dass
es zu einer harmonischen Auflösung kommt, zieht er die Spannungsschraube
noch weiter an. Schwierig ist die Fanciulla insofern, weil sie dem
Regisseur nur zwei Interpretationsansätze bietet: Entweder baut man eine
Western-Kulisse oder man dreht einen Film. Vielleicht ist sie deshalb
weniger beliebt als andere Puccini-Opern, wo man mehr Freiheiten hat.
Anders gefragt: Fanciulla ist definitiv ein Dirigentenstück,
ist es auch ein Sängerstück?
Jonas Kaufmann:
Aber ja! Immerhin gibt es hier drei tolle Partien. Minnie gehört
sicherlich zu den anspruchsvollsten Sopranpartien überhaupt, Jack Rance
dürfte nach dem Scarpia die attraktivste Baritonpartie Puccinis sein,
und meine Rolle ist weiß Gott keine undankbare, auch wenn sie nicht
solch tolle Tenor-Hits zu bieten hat wie Bohème oder Tosca. Dafür hat
sie andere Qualitäten. Um zu zeigen, dass dieser Dick Johnson ganz
anders ist als die Goldgräber, mit denen Minnie täglich zu tun hat, hat
Puccini ihm ein ganz individuelles musikalisches Profil gegeben: keinen
Ganoven hören wir da, sondern einen interessanten, weltgewandten Mann –
eben einen interessanten Fremden aus der Perspektive der Titelheldin.
Ich freue mich sehr auf diese Rolle!
Puccini sprach in
einem Interview im Zusammenhang mit der Fanciulla von einem
Belcanto-Werk.
Jonas Kaufmann: Wenn man
den Begriff „Belcanto“ im wörtlichen Sinne als „schönen Gesang“
auffasst, dann passt Fanciulla voll in diese Kategorie! Natürlich gehört
die Oper eher zum Genre „Verismo“, allein schon wegen der berühmten
Poker-Szene am Ende des zweiten Aktes, doch bei aller
Charakterisierungskunst, die die drei Hauptpartien erfordern, wage ich
doch zu behaupten, dass Puccini diese Oper für Sänger geschrieben hat,
die nach den Regeln des klassischen Belcanto singen. Dass die Sänger der
Uraufführung Emmy Destinn und Enrico Caruso waren, sagt eigentlich schon
alles.
Ist die Handlung nicht bestimmten Konventionen
verhaftet, die uns trivial erscheinen?
Jonas
Kaufmann: Ich finde es gerade eine Stärke Puccinis, dass er das
scheinbar Kleine, Unbedeutende und Triviale so liebevoll und
gleichzeitig so differenziert in Musik umsetzt. Das ist eine Kunst für
sich, und ich fände es unsinnig, die Puccini-Opern in dieser Hinsicht
gegen die Gemeinschaftsarbeiten von Verdi/Boito auszuspielen.
Außerdem ist das Ganze bei näherer Betrachtung alles andere als trivial:
eine Milieustudie gescheiterter Existenzen, die sich die ganze Zeit
fragen müssen, wann und warum sie in ihrem Leben die Weichen falsch
gestellt haben.
Bietet eine Tosca oder Butterfly größere
Herausforderungen für den Sänger als die Fanciulla?
Jonas Kaufmann: Das möchte ich nicht sagen. Die Partie
des Dick Johnson ist zwar nicht heldischer als ein Cavaradossi und
Pinkerton, doch sind die dramatischen Ausbrüche etwas schwieriger zu
bewältigen als bei den anderen Tenorrollen. Und sie hat wesentlich mehr
Zwischentöne – was sie für mich besonders reizvoll macht.
Kommt dem schauspielerischen Aspekt in der Fanciulla ein
größerer Stellenwert zu als beispielsweise in einer Butterfly?
Jonas Kaufmann: Ich denke, dass die Hauptfiguren in
der Fanciulla durchwegs mehr Facetten haben. Pinkerton und Butterfly –
das sind, pauschal gesprochen, der amerikanische Sextourist und die
ausgebeutete Geisha. Minnie und Dick sind demgegenüber ungleich
differenziertere Figuren und entsprechend auch vielschichtiger, was den
schauspielerischen Aspekt betrifft.
Puccini hat sich bei
der Fanciulla eindeutig von Pelléas et Mélisande inspirieren lassen:
Merkt auch der Sänger, dass hier Debussy Pate gestanden ist?
Jonas Kaufmann: Leider hab ich bisher den Pelléas
noch nicht gesungen, auch wenn mich diese Partie zwischen Tenor und
Bariton durchaus reizt. Aber von außen betrachtet sehe ich auch in der
Behandlung und Phrasierung der Gesangsstimmen deutliche Parallelen an
einigen Stellen.
Das übliche Puccini-Personal ist eher
dem Alltag entnommen. Minnie und Dick Johnson fallen da etwas heraus:
Sie die Heilige und er der edle, verbesserungswillige Räuber?
Jonas Kaufmann: Eine Opern-Diva, die einen Tyrannen
ersticht; eine Nonne, die Selbstmord begeht, weil ihr Kind gestorben
ist; eine Prinzessin, die ihre Heiratsbewerber köpfen lässt, wenn sie
beim Ratespiel versagen – finden Sie, dass das Figuren sind, die „dem
Alltag entnommen“ sind? Und Minnie ist ja durchaus keine Heilige,
sondern eine ebenso mutige wie gutmütige Frau, die ihren Jungs aus der
Bibel vorliest und die schlicht und einfach den Mann rettet, den sie
liebt. Und finden Sie es wirklich unrealistisch, dass ein Dieb durch die
Liebe seines Lebens seine kriminelle Vergangenheit hinter sich lässt?
Auch im Wilden Westen dürfte das durchaus vorgekommen sein. Vielleicht
können wir uns darauf einigen, die Story der Fanciulla als
romantisch-realistisch zu bezeichnen.
Fanciulla gilt als
Außenseiterstück: Bekommt Jonas Kaufmann international viele Dick
Johnson-Angebote? Worin lag der Reiz, das Angebot der Wiener Staatsoper
anzunehmen?
Jonas Kaufmann: Die Wiener
Neuproduktion ist mein Rollendebüt! Und die musikalischen Qualitäten des
Stückes waren Anreiz genug, das Angebot der Wiener Staatsoper
anzunehmen.