Der derzeit begehrteste Tenor der Welt, Jonas Kaufmann, singt heute in einem Sonderkonzert des Musikvereins für Steiermark Lieder von Liszt, Mahler, Duparc und Strauss.
Mit welchen Erinnerungen an die Stadt kommen Sie nach Graz zurück?
JONAS KAUFMANN: Mit ausgesprochen guten. Graz eilt
ja der Ruf voraus, im Konzertleben einen ganz besonderen Stellenwert zu
haben, in dieser Mischung von musikalischer Tradition und großer
Offenheit für weniger Bekanntes und Neues, und das hat sich bei meinem
ersten Konzert voll bestätigt. Wenn ich mich richtig erinnere, war das
im Mai 2005 im Minoritensaal. Mit dem Hornisten Stefan Dohr und Stefan
Vladar am Pult sang ich Brittens "Serenade for tenor, horn and strings",
die eher unter Insidern bekannt ist. Außerdem standen Dvoaks Serenade
und Arvo Pärts "Fratres" auf dem Programm. Also kein "populäres"
Programm, sondern eines, das den Zuhörer auch fordert.
Wie
viel Platz räumen Sie dem Lied in Ihrem Terminkalender ein?
KAUFMANN: Eine genaue Prozentzahl kann ich Ihnen jetzt
nicht sagen, aber wenn ich es zeitlich könnte, würde ich dem Liedgesang
noch mehr Platz als bisher in meinem Kalender einräumen. Das aktuelle
Liedprogramm, das Helmut Deutsch und ich erstmals im vergangenen Sommer
bei den Münchner Festspielen vorstellten, haben wir seither nur in zwei
Häusern gegeben: an der Metropolitan Opera und im Wiener Musikverein.
Nach Graz werden wir noch in der Berliner Philharmonie, im Théâtre des
Champs-Élysées in Paris und im Festspielhaus Baden-Baden zu hören sein.
Ist ein Liederabend, bei dem Sie, abgesehen vom Begleiter, ganz
auf sich allein gestellt sind und länger singen müssen als bei so
mancher Rolle auf der Bühne, anstrengender als ein Opernauftritt?
KAUFMANN: Auf jeden Fall, denn man ist ja von A bis
Z allein verantwortlich, man kann sich nicht hinter Kostüm und Maske
oder Kollegen verstecken. Man ist komplett exponiert, und wenn etwas
schief geht, kann man nichts auf andere schieben. Andererseits ist das
ja die besondere Herausforderung: Liedgesang ist für mich die
Königsklasse des Singens. Lieder zu gestalten erfordert ein hohes Maß an
technischer Fertigkeit und an künstlerischer Sensibilität, was bei
Opernpartien nicht unbedingt der Fall ist. Als Opernfigur ist man Teil
einer Geschichte, als Liedsänger erzählt man an einem Abend über zwanzig
verschiedene Geschichten, und ich finde es ungeheuer reizvoll, an einem
Abend so viele verschiedene Facetten zu zeigen, sprachlich und
musikalisch. Als Liedsänger kann man mit viel feineren Mitteln arbeiten,
nicht zuletzt auch deshalb, weil sich beim Lied die ganze Aufmerksamkeit
des Publikums auf Musik und Text konzentriert.
Beeinflusst es
Ihre Interpretation des Wälsungen, wenn Sie, wie heuer im April, den
Siegmund in Wagners "Walküre" unmittelbar nach einem Liederabend singen?
KAUFMANN: Stimmt, meine nächste "Walküre" singe ich
am 28. April, fünf Tage nach dem Liederabend in Baden-Baden. Ja, ich
finde schon, dass sich Oper und Lied gegenseitig positiv beeinflussen
können, das betrifft nicht nur Wagnerpartien, sondern das ganze große
Opernrepertoire. Eine Opernpartie kann nur gewinnen, wenn man sie auch
mit den Feinheiten des Liedgesangs gestalten kann, und manche Lieder, z.
B. einige von Richard Strauss, profitieren durchaus davon, wenn man bei
bestimmten Phrasen mit der ganzen Kraft des Opernsängers zulangt.
Dient der Liedgesang auch der stimmlichen Hygiene?
KAUFMANN: Auf jeden Fall! Liedgesang ist das Beste, was
man als Sänger für die Stimmhygiene tun kann. Da kommt jede schlechte
Angewohnheit sofort ans Licht.
Gibt es einen Ariadnefaden
durch Ihr Grazer Lied-Programm?
KAUFMANN:
Nicht inhaltlich, wohl aber was das Genre "Lied" betrifft. Ich denke,
dass unser Programm ganz gut zeigt, wie unterschiedlich Komponisten an
die Vertonung von Gedichten herangegangen sind. Bei Gustav Mahler
standen sicher persönliche Erfahrungen von Freude und Leid im
Vordergrund, seine Vertonungen stehen immer im Zeichen einer gesteigerte
Emotionalität. Franz Liszt ist als Liedkomponist längst nicht so
bekannt, wie er es aufgrund seiner Meisterschaft in diesem Genre
verdient hätte, und es war uns ein Anliegen, diese besondere Facette
eines Mannes zu zeigen, der immer weitgehend als Klavierlöwe
abgestempelt wird. Bei Richard Strauss kann ich, wie gesagt, als Sänger
mehr Stimme geben als bei anderen Komponisten; aber es gibt bei ihm auch
immer wieder Phrasen, wo man mit ganz feinen Farben malen kann - und
muss! Diese Kontraste zu gestalten, empfinde ich als große
Herausforderung, und außerdem gefällt mir in vielen Strauss-Liedern der
Sinn für Humor, auch für Selbstironie. In direkter Nachbarschaft zu
diesen dreien mag Henri Duparc eher exotisch wirken. Ich halte ihn für
einen hochinteressanten, aber unterschätzten Komponisten, der leider nur
wenige Lieder geschrieben hat. Die Gedichte, die er vertont hat, sind
zum größten Teil sehr ausladend, sehr blumig, atmosphärisch sehr dicht.
Und in Kombination mit Duparcs Musik wirken diese Stücke so stark, dass
man meint, Landschaften zu sehen und Düfte zu riechen.
War es
für Ihre stimmliche und künstlerische Entwicklung günstig, dass Sie erst
relativ spät zum Star avanciert sind?
KAUFMANN:
Ich denke schon. "Relativ spät" im Vergleich zu vielen Blitz-Karrieren,
könnte man sagen. Doch wenn man nicht die Schnelllebigkeit unserer Zeit
zum Maßstab nimmt, sondern die gesunde Entwicklung eines Sängers, dann
war es genau zum richtigen Zeitpunkt. Bei meinem Durchbruch an der Met
war ich 36, da hat man als Sänger die beste Zeit noch vor sich.
Wie viele Auftritte im Jahr verkraftet Ihr Tenor, ohne zu ermüden?
KAUFMANN: Schätzungsweise 60 bis 70 im Jahr. Ideal
wäre einmal in der Woche, aber das lässt sich bei Opern-Serien selten
realisieren.
Auf der Opernbühne singen Sie deutsches,
französisches und italienisches Repertoire. Wollen Sie diese
Vielseitigkeit beibehalten, oder denken Sie an eine Spezialisierung?
KAUFMANN: Nein! Spezialisierung ist genau das, was
ich nicht will! Ich bin ja der Überzeugung, dass eine gute Mischung von
ganz unterschiedlichem Repertoire, unterschiedlichen Stilen und Sprachen
die stimmliche Flexibilität über Jahrzehnte erhalten kann. Dafür gibt es
ja viele prominente Beispiele, siehe Plácido Domingo.