Kleine Zeitung, 15. Februar 2012
Interview: ERNST NAREDI-RAINER
Die Königsklasse des Singens 
 
 

Der derzeit begehrteste Tenor der Welt, Jonas Kaufmann, singt heute in einem Sonderkonzert des Musikvereins für Steiermark Lieder von Liszt, Mahler, Duparc und Strauss.

Mit welchen Erinnerungen an die Stadt kommen Sie nach Graz zurück?

JONAS KAUFMANN: Mit ausgesprochen guten. Graz eilt ja der Ruf voraus, im Konzertleben einen ganz besonderen Stellenwert zu haben, in dieser Mischung von musikalischer Tradition und großer Offenheit für weniger Bekanntes und Neues, und das hat sich bei meinem ersten Konzert voll bestätigt. Wenn ich mich richtig erinnere, war das im Mai 2005 im Minoritensaal. Mit dem Hornisten Stefan Dohr und Stefan Vladar am Pult sang ich Brittens "Serenade for tenor, horn and strings", die eher unter Insidern bekannt ist. Außerdem standen Dvoaks Serenade und Arvo Pärts "Fratres" auf dem Programm. Also kein "populäres" Programm, sondern eines, das den Zuhörer auch fordert.

Wie viel Platz räumen Sie dem Lied in Ihrem Terminkalender ein?

KAUFMANN: Eine genaue Prozentzahl kann ich Ihnen jetzt nicht sagen, aber wenn ich es zeitlich könnte, würde ich dem Liedgesang noch mehr Platz als bisher in meinem Kalender einräumen. Das aktuelle Liedprogramm, das Helmut Deutsch und ich erstmals im vergangenen Sommer bei den Münchner Festspielen vorstellten, haben wir seither nur in zwei Häusern gegeben: an der Metropolitan Opera und im Wiener Musikverein. Nach Graz werden wir noch in der Berliner Philharmonie, im Théâtre des Champs-Élysées in Paris und im Festspielhaus Baden-Baden zu hören sein.

Ist ein Liederabend, bei dem Sie, abgesehen vom Begleiter, ganz auf sich allein gestellt sind und länger singen müssen als bei so mancher Rolle auf der Bühne, anstrengender als ein Opernauftritt?

KAUFMANN: Auf jeden Fall, denn man ist ja von A bis Z allein verantwortlich, man kann sich nicht hinter Kostüm und Maske oder Kollegen verstecken. Man ist komplett exponiert, und wenn etwas schief geht, kann man nichts auf andere schieben. Andererseits ist das ja die besondere Herausforderung: Liedgesang ist für mich die Königsklasse des Singens. Lieder zu gestalten erfordert ein hohes Maß an technischer Fertigkeit und an künstlerischer Sensibilität, was bei Opernpartien nicht unbedingt der Fall ist. Als Opernfigur ist man Teil einer Geschichte, als Liedsänger erzählt man an einem Abend über zwanzig verschiedene Geschichten, und ich finde es ungeheuer reizvoll, an einem Abend so viele verschiedene Facetten zu zeigen, sprachlich und musikalisch. Als Liedsänger kann man mit viel feineren Mitteln arbeiten, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich beim Lied die ganze Aufmerksamkeit des Publikums auf Musik und Text konzentriert.

Beeinflusst es Ihre Interpretation des Wälsungen, wenn Sie, wie heuer im April, den Siegmund in Wagners "Walküre" unmittelbar nach einem Liederabend singen?

KAUFMANN: Stimmt, meine nächste "Walküre" singe ich am 28. April, fünf Tage nach dem Liederabend in Baden-Baden. Ja, ich finde schon, dass sich Oper und Lied gegenseitig positiv beeinflussen können, das betrifft nicht nur Wagnerpartien, sondern das ganze große Opernrepertoire. Eine Opernpartie kann nur gewinnen, wenn man sie auch mit den Feinheiten des Liedgesangs gestalten kann, und manche Lieder, z. B. einige von Richard Strauss, profitieren durchaus davon, wenn man bei bestimmten Phrasen mit der ganzen Kraft des Opernsängers zulangt.

Dient der Liedgesang auch der stimmlichen Hygiene?

KAUFMANN: Auf jeden Fall! Liedgesang ist das Beste, was man als Sänger für die Stimmhygiene tun kann. Da kommt jede schlechte Angewohnheit sofort ans Licht.

Gibt es einen Ariadnefaden durch Ihr Grazer Lied-Programm?

KAUFMANN: Nicht inhaltlich, wohl aber was das Genre "Lied" betrifft. Ich denke, dass unser Programm ganz gut zeigt, wie unterschiedlich Komponisten an die Vertonung von Gedichten herangegangen sind. Bei Gustav Mahler standen sicher persönliche Erfahrungen von Freude und Leid im Vordergrund, seine Vertonungen stehen immer im Zeichen einer gesteigerte Emotionalität. Franz Liszt ist als Liedkomponist längst nicht so bekannt, wie er es aufgrund seiner Meisterschaft in diesem Genre verdient hätte, und es war uns ein Anliegen, diese besondere Facette eines Mannes zu zeigen, der immer weitgehend als Klavierlöwe abgestempelt wird. Bei Richard Strauss kann ich, wie gesagt, als Sänger mehr Stimme geben als bei anderen Komponisten; aber es gibt bei ihm auch immer wieder Phrasen, wo man mit ganz feinen Farben malen kann - und muss! Diese Kontraste zu gestalten, empfinde ich als große Herausforderung, und außerdem gefällt mir in vielen Strauss-Liedern der Sinn für Humor, auch für Selbstironie. In direkter Nachbarschaft zu diesen dreien mag Henri Duparc eher exotisch wirken. Ich halte ihn für einen hochinteressanten, aber unterschätzten Komponisten, der leider nur wenige Lieder geschrieben hat. Die Gedichte, die er vertont hat, sind zum größten Teil sehr ausladend, sehr blumig, atmosphärisch sehr dicht. Und in Kombination mit Duparcs Musik wirken diese Stücke so stark, dass man meint, Landschaften zu sehen und Düfte zu riechen.

War es für Ihre stimmliche und künstlerische Entwicklung günstig, dass Sie erst relativ spät zum Star avanciert sind?

KAUFMANN: Ich denke schon. "Relativ spät" im Vergleich zu vielen Blitz-Karrieren, könnte man sagen. Doch wenn man nicht die Schnelllebigkeit unserer Zeit zum Maßstab nimmt, sondern die gesunde Entwicklung eines Sängers, dann war es genau zum richtigen Zeitpunkt. Bei meinem Durchbruch an der Met war ich 36, da hat man als Sänger die beste Zeit noch vor sich.

Wie viele Auftritte im Jahr verkraftet Ihr Tenor, ohne zu ermüden?

KAUFMANN: Schätzungsweise 60 bis 70 im Jahr. Ideal wäre einmal in der Woche, aber das lässt sich bei Opern-Serien selten realisieren.

Auf der Opernbühne singen Sie deutsches, französisches und italienisches Repertoire. Wollen Sie diese Vielseitigkeit beibehalten, oder denken Sie an eine Spezialisierung?

KAUFMANN: Nein! Spezialisierung ist genau das, was ich nicht will! Ich bin ja der Überzeugung, dass eine gute Mischung von ganz unterschiedlichem Repertoire, unterschiedlichen Stilen und Sprachen die stimmliche Flexibilität über Jahrzehnte erhalten kann. Dafür gibt es ja viele prominente Beispiele, siehe Plácido Domingo.


 

 






 
 
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