Opernglas, Juli/August 2010
Brigitte Kempen traf den charmanten Festspielstar.
Auf nach Bayreuth!
 
Es ist soweit: Jonas Kaufmann singt den Lohengrin jetzt auch auf dem Grünen Hügel.
Das eigene Bayreuth-Debüt: Ist das der Eintritt in ein Eldorado, ein Gang in die Stierkampfarena oder ein Job wie jeder andere auch?
In dem Moment, in dem ich auf der Bühne stehe und der Vorhang aufgeht, muss es ein ganz normaler Job sein, wie jeder andere auch. Wenn man so ein Engagement angeboten bekommt, hat das sicherlich eine besondere Bedeutung, einen persönlichen Stellenwert. Und in diesem Fall beeindrucken selbstverständlich die übergeordnete Tradition, die mit den Werken Richard Wagners einhergeht und das Erbe der vielen "Vorväter", die den Lohengrin dort schon verkörpert haben. Aber wenn man dann die Produktion macht und die Partie singt, darf das eben keine Rolle mehr spielen. Wenn man zu sehr bemüht ist, dadurch auch sehr aufgeregt und zu viel von sich selbst fordert, dann ist das einfach nicht gut.

Früher schwärmten viele Sänger aus dem Bayreuther Festspielensemble vom familiär möglichen Urlaub mit "Arbeitseinlagen". Ist das heute noch so?
Grundsätzlich ist die Sängersituation enge und dichter geworden. Wenn man so weit vorgedrungen ist, dass die Bayreuther Festspiele in den Bereich des beruflich Möglichen rücken, ist man bereits gezwungen, das ganze Jahr über und nicht nur während der offiziellen Spielzeit als Vagabund von Theater zu Theater zu ziehen. Da ist es schwierig zu sagen: Jetzt verbringe ich einfach den ganzen Sommer in Bayreuth oder in Salzburg. Mein Sommer sieht konkret so aus, dass ich während des Bayreuther Probenbeginns noch Aufführungen in München habe und erst später zu den Proben erscheine. Die letzte "Tosca" ist sechs Tage vor der "Lohengrin"-Premiere. Ein paar Tage später gibt es einen Liederabend bei den Münchner Festspielen, und nach der dritten Bayreuther Aufführung gehe ich nach Luzern, um dort mit dem Luzern Festival Orchester und Claudio Abbado ein paar konzertante "Fidelio"-Aufführungen zu singen. Zwischen den beiden letzten "Lohengrin"-Terminen habe ich in Salzburg im Großen Festspielhaus noch einen Liederabend. Also kein so richtig entspannender Festspielsommer, sodass ich meinen Urlaub sozusagen auf den September verschiebe mit der Hoffnung, dass es bis dahin auch noch schönes Wetter gibt.

Die Eröffnungspremieren der Münchner Festspiele mit "Tosca" und der Bayreuther Festspiele mit Ihrem dortigen Debüt im "Lohengrin" stehen im fokussierten Interesse der Öffentlichkeit. Wie stehen Sie das nervlich durch? Haben Sie Nerven aus Drahtseilen?
In der "Werther"-Produktion Anfang des Jahres in Paris war das auf die Spitze getrieben worden: Ich hatte noch nie den Werther gesungen - und dann gleich in Paris an der Bastille-Oper. Außerdem war ich der einzige Nicht-Franzose in der Besetzung und dementsprechend bestand auch auf der sprachlichen Seite ein gewisser Druck. Nach vier Tagen Probe lag ich mit Grippe zweieinhalb Wochen im Bett. Zur Generalprobe kam ich zurück, um wenigstens einmal das Orchester gehört und die Bühne gesehen zu haben. Drei Tage später habe ich die Premiere gesungen, und die dritte Aufführung wurde dann schon live im Fernsehen übertragen. Da konnte man sich nicht einfach mal ausruhen - und es hat mir trotzdem überhaupt nichts ausgemacht.

Sie bestreiten oft Live-Übertragungen und Live-Aufzeichnungen. Mögen Sie die Nähe zur Kamera?
Manchmal wird das übertrieben. Vor allem habe ich Schwierigkeiten mit diesen "Big-Brother"-Kameras, die einen von der Garderobe bis auf die Bühne verfolgen. Sie sind dann überall backstage, nur um auch noch den letzten Schweißtropfen aufzunehmen. Die letzten Sekunden vor dem Auftritt noch mal im Close up - das finde ich ein bisschen sehr voyeuristisch, zumal es genau das ist, was das Publikum eigentlich nicht sehen soll. Wir Sänger versuchen ja, eine gewisse Illusion zu erzeugen. Ich verstehe nicht, was der Reiz dabei ist, aber ich bin nicht derjenige, der das entscheidet.

Ganz gleich, ob man Sie nun live in München als Lohengrin erlebt hat oder in der DVD-Veröffentlichung dieser Produktion - herausragend bleibt Ihr Vortrag der Gralserzählung. Was ist Ihr Geheimnis bei dieser Interpretation?
Irgendwann in der Aufführungspraxis haben wir akzeptiert, dass Wagner immer irgendetwas mit lautem, pompösen und heldischen Gesang zu tun haben muss. Wenn man sich aber die Partituren ansieht, sind mindestens ebenso viele Piano-Zeichen notiert wie Forte-Angaben. Es gibt viele Momente, in denen ein "Nichts" an Begleitung erklingt und nur ein einziges Solo-Instrument spielt. Dann stellt sich doch die Frage, warum ich diese Momente nicht nutze, um auch mal andere Farben in eine Wagner-Partie zu bringen. Wenn ich mir ansehe, wie der traditionelle Wagnergesang einmal war und wie Wagner die Stücke gesungen haben wollte, dann haben wir uns einfach ganz schön weit davon weg bewegt. Das bedeutet nicht, dass ich das Rad wieder zurückdrehen möchte, denn auch der moderne Orchesterklang ist unglaublich toll, keine Frage. Aber man muss ihn halt mit Maßen einsetzen und wissen, wann es möglich ist, diese Klangfülle voll zu nutzen, und wann, sie zu reduzieren. Dann ergibt sich die Möglichkeit, Wagner nicht nur mit einer einzigen Klangdimension zu singen, sondern ihn sehr reich und farbig zu gestalten.
Ich habe mir in letzter Zeit sehr viele Wagner-Aufnahmen auf Italienisch angehört. Da meint man tatsächlich, eine andere Musik zu hören. Einfach durch die Sprache verändert sich sofort auch die Phrasierung. Da sind ganz lange, wunderbare Bögen drin, die man auch mit der deutschen Sprache und deren eher harter Artikulation erreichen kann, ohne dabei undeutlich zu werden.
Neben diesen gesangstechnischen Aspekten beschäftige ich mich natürlich mit dem Charakter. Bei Lohengrin ist es für mich ganz klar: Ich singe einen tragischen Helden und möchte wissen, was für ein Mensch hinter dieser Heldenfassade steckt und was er für Gefühle hat. Man spürt an vielen Stellen, dass er sich nach einem normalen Leben sehnt, nicht mehr als Superheld von Mission zu Mission springen will und sich gern länger als nur dieses eine Jahr mit Elsa einlassen würde. Und wenn er sich in den wenigen Momenten, die er in dieser Welt weilt, so stark hineingesteigert hat in diese Idee, dann ist Elsas Frage eine bittere Enttäuschung, ein persönlicher Verlust - genau das macht das Menschliche dieses Charakters aus. Das Scheitern seiner Mission, die politische Dimension rückt da an die zweite Stelle. Das ist nicht sehr einfach zu etablieren, es gibt nur ganz wenige Stellen, in denen man das hinbekommt. Wenn die Gralserzählung beginnt, ist Lohengrin gerade in großer Enttäuschung in ein depressives Loch gefallen. Die Gralserzählung ist nicht heldisch und stolz, sondern unglaublich schlicht und lässt Glauben und Mystik spüren, die seit Lohengrins Geburt fest in ihm verwurzelt sind. Er erzählt das alles mit einer großen Sentimentalität, wie von der Welt entrückt. Er ist innerlich abgestorben, und diese Bitterkeit ist eine richtige Depression - das kommt dem Musikalischen sehr entgegen, denn die Steigerung entwickelt sich aus langen leisen Stellen.

Hat die verlängerte Form der Gralserzählung schon einmal zur Diskussion gestanden?
Wagner hatte meiner Meinung nach Recht damit, als er sich entschlossen hat, die 2. Strophe der Gralserzählung zu streichen. Man kann das nicht noch überhöhen. Dieser so genannte "Luftsprung", der bringt dem Stück mehr. Außerdem sind gewisse Stellen darin, die einen bitteren kriegerischen Beigeschmack haben. Musikalisch gibt es tolle Phrasen, und wir sind tatsächlich schwer in der Diskussion, ob wir es machen sollen in diesem Sommer. Es ist noch nicht ganz entschieden.

Sie haben ja nun eine sehr genaue Vorstellung vom Charakter des Lohengrin. Es gibt aber auch Regisseure, die krempeln die Figur durch einen anderen Kontext fundiert um und machen aus ihm eine Negativ-Figur. Können Sie so ein Konzept mit tragen?
Zumindest von der Bayreuther Produktion weiß ich, dass Herr Neuenfels das Stück sehr ernst nehmen und mit seiner Welt so darstellen will, wie es gemeint ist. Insofern wird das nicht anstehen in dieser Inszenierung. Aber grundsätzlich: Ich spiele ehrlich gesagt sehr gern Bösewichte, weil man diese Chance als Tenor nicht sehr oft hat.

Dürfen Sie denn konkret etwas vom Regiekonzept von Herrn Neuenfels erzählen?
Ich darf offiziell überhaupt nichts verraten. Das steht sogar im Vertrag - es ist, glaube ich, das einzige Mal, dass ich einen Vertrag mit einer Verschwiegenheitsklausel unterschrieben habe. Aber jeder, der schon mal eine Produktion von Hans Neuenfels gesehen hat, weiß, dass er kein traditionelles Bühnenbild hinstellen und das Stück ein zu eins erzählen wird. Natürlich wird es modern sein, es wird in eine andere Zeit, vielleicht auch in eine andere Welt versetzt werden, um eine gewisse Symbolik zu verdeutlichen - da verrate ich bestimmt nichts Neues.

Hatten Sie schon Kontakt zu Andris Nelsons, der ja sein Dirigentendebüt in Bayreuth geben wird?
Überhaupt nicht! Alle Welt erzählt mir, wie großartig er ist, und ich glaube das.

Sie haben bereits die nächste Wagner-Partie im Visier: den Siegmund in der "Walküre". Das Debüt steht schon sehr bald in New York an ...
Das ist richtig: in der kommenden Spielzeit schon. Der Siegmund liegt relativ tief; mich haben auch einige Kollegen davor gewarnt, man könne dabei seine Höhe verlieren. Das befürchte ich aber nicht, denn ich habe eigentlich eine sehr "lange" Stimme, wie man so sagt: Ich habe Höhe, aber auch eine dunkler gefärbte Tiefe. Und wenn ich mir nicht einbilde, wirklich wie ein klassischer Bariton klingen zu müssen, dann wird da auch nichts passieren. Es ist ja auch nicht so, dass ich gleich dreißig Mal den Siegmund singen werde. Im Rahmen der Neuproduktion an der Met sind es, glaube ich, zunächst sechs Aufführungen, im Jahr darauf kommen noch mal drei. Mehr ist nicht geplant im Moment.

Haben Sie eine Lieblingsrolle oder ist das immer die, die man gerade interpretiert?
Absolut. Das muss so sein - und man verliebt sich auch sehr leicht immer wieder neue in diese Partien, gerade wenn man sie nicht ständig singt. Ich habe mittlerweile ein sehr weites Repertoire und dementsprechend auch sehr viel Abwechslung in meinem Kalender. Da freut man sich richtig, wenn gewisse Partien wieder auf einen zukommen und man sie neu gestalten und interpretieren kann. In der Münchner "Carmen"-Inszenierung, die ja schon viele Jahre lang im Spielplan existiert, konnte ich mir auch eine gewisse Freiheit erlauben, nämlich dass Don José, was ich vorher so noch nie gemacht habe, schon im 1. Akt sehr aktiv auf Carmen zugeht - also in dem Moment, wo er ihr verfallen ist, geht er ihr auch radikal an die Wäsche. Das verändert den Moment, in dem Zuniga hereinkommt. Ein ganz anderer Kontakt ist zwischen den beiden da. Man spürt den Austausch heimlicher Zärtlichkeiten, während José Carmen abführt. Das könnte man im 2. Akt sehr gut weiterentwickeln, wenn da nicht diese zusammengestrichenen Dialoge wären. In jeder Produktion versucht man eben, immer wieder neue Ecken zu entdecken und Neues auszuprobieren, um die Atmosphäre in bestimmte Richtungen zu verschieben. Das macht es spannend, das hält den ganzen Job so interessant, weil darin eben sehr viel Abwechslung liegt.

Lohengrin, Don José - jetzt fehlt noch die dritte derzeit aktuelle Partie, der Cavaradossi in München. Wo werden Sie in dieser "Tosca"-Produktion von Luc Bondy die neuen Ecken finden?
Luc Bondy macht derzeit noch eine Produktion in Wien und kommt deshalb erst Ende der Woche. Aber ich kenne diese Koproduktion mit der Met ja schon, und ich glaube, dass es da noch ein bisschen Diskussionsbedarf mit dem Regisseur gibt, um ein paar Feinheiten hineinzubringen. Das ist mir bisher noch ein bisschen zu wenig gewesen, und ich trau mich natürlich nicht, einfach so loszulegen, ohne dass Bondy seinen Segen dazu gegeben hat. Ich kann ja nicht einfach selbst Regie führen.

Welche künstlerischen Persönlichkeiten haben Ihre berufliche Entwicklung bisher geprägt?
Auf jeden Fall Giorgio Strehler, den ich bei einer "Cosi" in Mailand kurz vor seinem Tod kennen gelernt habe. Das war ein toller Mann mit unglaublichen Fantasien, Ideen und Energien, der mir als einer der ersten die Augen geöffnet hat, was Rolleninterpretation bedeutet, nämlich dass man sich so mit einer Rolle beschäftigen muss, dass man genau weiß, was das für ein Typ ist, und dann im nächsten Schritt so weit kommt, dass man wie dieser Typ empfindet. In dem Moment ändert sich auch die Stimme, sie passt sich der Empfindung, der momentanen mentalen Situation an und unterstützt dann das, was man optisch sieht, noch dadurch, dass eben auch der Klang dazu passt. Manchmal haben wir bei der Erarbeitung einer Szene eine Stunde lang keinen Fuß auf die Bühne gesetzt. Strehler hat nur erzählt, bis man voll und ganz in der jeweiligen Situation war. In der szenischen Umsetzung ergab sich dann alles von allein, die Kombination mit dem Text in der jeweiligen Situation hat sich vollkommen logisch entwickelt. Und Strehler hat einen immer wieder ermutigt, eine Szene neu zu empfinden und immer wieder neu zu entwickeln. Nur dann kann die Rolle auch jedes Mal stark sein. Das war etwas, was ich vorher nicht gekannt hatte. Für mich war Regie bis dahin etwas sehr Technisches gewesen. Mir war gar nicht klar, dass das eigentlich etwas Spontanes ist, was natürlich in einem gewissen Gesamtrahmen stattfinden muss. Man kann nicht spontan etwas ganz anderes machen, wenn man Partner auf der Bühne hat, wohl aber in gegenseitigem Einvernehmen jeden Abend variieren. Und genau das liebe ich, wenn mein Partner oder meine Partnerin auf der Bühne spontan sind und etwas anderes anbieten, weil man selbst dann in ein echtes Spiel hineinkommt und nicht versehentlich an diesem Ort des immer wieder gleichen Wiederholens stecken bleibt.

Wie abgeschottet ist man als Sänger vom ganz normalen Alltag?
Wenn ich beispielsweise in New York sitze, dann stehen ich auf, wenn meine Kinder schon wieder von der Schule zuhause sind und die Hausaufgaben machen. Ein Großteil meines Lebens findet statt, wenn meine Kinder schon schlafen, und der Kontakt wird dadurch sehr schwierig. Früher hat das auch zu Frust geführt, denn dann hat man sich plötzlich sehr einsam gefühlt, wenn man mal Leerlauf hatte. Heute habe ich keinen Leerlauf mehr, so dass ich gar nicht dazu komme zu denken, wie spät es jetzt zuhause ist und was die Familie gerade macht. Wenn ich aber zuhause bin, bin ich ganz normal integriert und stehe auch brav auf, um meine Frau Margarete Joswig ein bisschen zu entlasten, weil die Kinder sehr früh aufstehen müssen. Das ist schon hart - und meine Frau ist ja auch Sängerin, also eigentlich ebenfalls eher ein Nachtmensch. Als wir noch keine Kinder hatten, war es völlig normal, mal bis 11 Uhr im Bett zu liegen und dann irgendwie den Tag so langsam anzufangen.






 
 
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