In der Fidelio-Inszenierung von Calixto Bieito singt Jonas
Kaufmann den Florestan. Im Interview mit Thomas Voigt spricht er über
sängerische Herausforderungen und seine Vorfreude auf die Arbeit mit dem
spanischen Regisseur.MAX JOSEPH (MJ): Mit dem Namen
Bieito assoziiert man in der Opernwelt Folter, Blut und nacktes Fleisch.
Haben Sie schon mit ihm gearbeitet?Jonas Kaufmann (JK):
Nein, aber natürlich habe ich immer wieder Berichte über seine
Inszenierungen gelesen oder im Fernsehen gesehen, insofern bin ich
sicher, dass es keine konventionelle Inszenierung wird.
MJ:
Lieber Provokation als Konvention?JK: Das möchte ich so
pauschal nicht sagen, aber nach meinen Erfahrungen sind konventionelle
Inszenierungen eher langweilig. Man möchte doch nicht die „Butterfly“
jahrzehntelang so sehen, wie man sie als Kind erlebt hat.
MJ:
Eben das ist der Punkt: Wer seit Jahrzehnten in die Oper geht, will
Abwechslung und neue Reize. Aber was macht man mit den Anfängern? Haben
Kinder und andere Opern-Novizen nicht das Recht auf eine Inszenierung,
bei der sie Werk, Handlung und Dialoge auf Anhieb verstehen, ohne dass
man ihnen vorher das Regiekonzept erklären muß? Anders gefragt: Wären
Sie damals, bei Ihrer ersten „Butterfly“ im Nationaltheater, genauso der
Oper verfallen, wenn man die Handlung in den Vietnamkrieg verlegt hätte?
JK: Wenn die emotionalen Beziehungen zwischen den Figuren und das
Verhältnis von Aktion und Musik gestimmt hätten – ganz sicher! Ich
verstehe Ihre Bedenken, nur finde ich, dass es gerade das Merkmal einer
guten Inszenierung ist, wenn sie beiden Gruppen das Essenzielle eines
Stückes vermittelt, den Anfängern genauso wie denjenigen, die das Werk
schon in zwanzig verschiedenen Inszenierungen gesehen haben. Das ist ja
die große Herausforderung jeder Neuinszenierung: das Stück immer wieder
neu zu „erfinden“! Und wenn der Regisseur kein Mann ist, der in erster
Linie den Presserummel braucht, sondern ein ernsthafter Künstler mit
großer Überzeugungskraft, dann wird man sich selbst nach anfänglichen
Zweifeln sagen: „Ja, so muß es sein! Warum hat das noch keiner gezeigt?“
Um auf Bieito zurückzukommen: Er gehört offenbar zu den Regisseuren, bei
denen die Inszenierung schon Monate vor der Premiere stattfindet – in
den Köpfen derLeute,die einen Skandal erwarten. Ich bin schon gefragt
worden, ob ich denn als Florestan auch nackt auftreten würde. Darüber
mache ich mir doch jetzt keine Gedanken!
MJ: Mit neuen
Sichtweisen auf „Fidelio“ sind Sie ja vertraut.JK: Wohl
wahr! Die Stuttgarter „Fidelio“-Inszenierung von Martin Kusej zähle ich
zu meinen stärksten Musiktheatererlebnissen. Da fand die Befreiung des
Florestan nur in der Fantasie von Leonore statt.
MJ: Damals,
1998 in Stuttgart, sangen Sie noch den Jaquino.JK: Stimmt –
und Kusej hatte die Rolle sehr aufgewertet. Statt des kleinen
Angestellten, den man üblicherweise zu sehen bekommt, zeigt er einen
brutalen Machtmenschen.
MJ: Knapp drei Jahre später
wechselten sie zum Florestan. Hat Sie die Rolle gereizt oder war es eher
die musikalisch-stimmliche Herausforderung der Soloszene, die ja selbst
von gestandenen Heldentenören gefürchtet wird?JK: Es war
sicher die große Szene, die mich gereizt hat, mit diesem heiklen
Schlussteil, an dem sich schon viele Tenöre versungen haben. Denn als
Figur ist Florestan ja eher eindimensional, nicht annähernd so
interessant wie etwa ein Don José in „Carmen“. Helmut Rilling war der
Erste, der mir die Rolle angeboten hat für eine Serie von konzertanten
Aufführungen beim Rheingau Musik Festival, in der Stuttgarter
Liederhalle und beim Beethovenfest in Bonn. Und es lief prima. Zu meiner
großen Freude wurde meine Stimme an diesen heiklen Stellen nicht enger,
sondern ging immer mehr auf.
MJ: Florestans ekstatische
Vision vom rettenden Engel: „Der führt mich zur Freiheit, ins himmlische
Reich!“, diese höllisch schwere Phrase, wird gern als Beweis dafür
zitiert, dass Beethoven nicht wußte, wie man für Sänger komponiert.
Andererseits läßt sie sich auch dahingehend interpretieren, dass er
bewußt den Sänger an die Grenzen des Singbaren getrieben hat: Die
Extremsituation des Gefangenen verlangt nach einer Extremsituation beim
Singen.JK: Wohl eher Letzteres, denn wenn man sich seine
„Missa Solemnis“ ansieht, so ist auch hier das Mittel der „Verzweiflung
durch Unsingbarkeit“ ganz deutlich Teil des Konzepts, also
beispielsweise beim sich immer höher schraubenden „Et vitam venturi“ im
Chorsopran. Oder nehmen Sie die Arie der Leonore in der Urfassung: Das
ist ja dramatische Koloratur vom Allerschwierigsten! Und wie oft gibt es
Superfrauen, die das singen können? Die Änderungen, die Beethoven an
dieser Arie vorgenommen hat, sind eindeutig der Theaterpraxis
geschuldet!
MJ: „Leonore“ oder „Fidelio“ –welche Fassung ist
Ihnen lieber?JK: „Fidelio“ ist in jeder Hinsicht stärker!
MJ: Zurück zum „himmlischen Reich‘“: Wie schafft man es, diese
Phrase zu singen, ohne sich wehzutun?JK: Für mich gibt es
nur einen Weg: keine Panik bekommen, sondern möglichst entspannt bleiben
und ja nicht vorauseilen, um schnell drüber wegzukommen, das bewirkt
genau das Gegenteil, denn so werden die Atempausen noch kürzer.
MJ: Nun könnte man einwenden: Florestan ist ja nur noch ein Häufchen
Elend, warum sollte er da nicht mit letzter Kraft die Töne
herauspressen?JK: Weil es eben kein Realismus ist, sondern
Opernrealität: Nicht der körperliche Verfall soll hier zum Ausdruck
kommen, sondern der Seelenzustand des Verzweifelten, seine ekstatische
Vision von Rettung und Befreiung. Genauso ist der erste Ton dieser
Szene, das aus dem Nichts kommende, immer stärker und dringlicher
werdende „Gott!“, der Aufschrei der gequälten Seele – aber eben kein
naturalistischer, sondern ein musikalischer „Schrei“, der größte
stimmlich-technische Kontrolle erfordert. Ich weiß nicht, wie oft ich an
diesem Crescendo gearbeitet habe. Jedenfalls hat es lange gedauert, bis
es so klang, wie ich es mir vorgestellt haben. Nur sollte das Publikum
bei solchen Phrasen nicht denken: „Toll, wie der das kann!“,sondern
immer mit der dargestellten Person fühlen. Und das ist die große
Herausforderung in unserem Beruf: ganz in eine Figur hineinzuschlüpfen
und trotzdem immer die Kontrolle darüber zu haben, was man als Sänger
und Darsteller tut. Karajan nannte das „kontrollierte Exstase“.
MJ: Vor Ihrem ersten Lohengrin in München haben Sie den Alfredo in
„La Traviata“ gesungen, vor Ihrem Bayreuth-Debüt in derselben Rolle
waren Sie hier als Don José und Cavaradossi zu hören, vor Ihrem
Florestan werden Sie in London als Maurizio in „Adriana Lecouvreur“
auftreten. Offenbar sind solche Abwechslungen wesentlicher Bestandteil
Ihrer stimmlichen Fitness.JK: Ganz sicher. Wie das Beispiel
Domingo zeigt, hält man sich die Stimme auf diese Art viel länger
geschmeidig. Dadurch kann ich auch immer noch Lieder singen und die
feinen Nuancen umsetzen. Und auch musikalisch sind solche Wechselbäder
sinnvoll. Zum Beispiel hatte ich das Gefühl, dass mir die
„Tosca“-Aufführungen in München geholfen haben, den Lohengrin in
Bayreuth wieder neu anzugehen. Überhaupt glaube ich, dass es einem
Sänger nur nützen kann, vor einer Wagnerpartie italienisches Repertoire
zu singen. Denn dann wird einem wieder klar, was Wagner eigentlich
wollte: deutsche Oper mit italienischem Legato. Und immer wieder piano
und pianissimo!
MJ: Weiß man das heute noch zu schätzen?
JK: Ich denke schon, zumindest bei einem Großteil des Publikums.
Nehmen Sie zum Beispiel Lohengrins Abschied im letzten Akt: „Mein lieber
Schwan! Ach, diese letzte, traur’ge Fahrt, wie gern hätt‘ ich sie dir
erspart!“ Nach der Premiere in Bayreuth sagte man mir, bei dieser Stelle
sei eine Emotionswelle durchs Publikum gegangen, die fast körperlich zu
spüren war. Aber es hat während der Proben unter den musikalischen
Beratern in Bayreuth auch kritische Stimmen gegeben, die sagten: „Viel
zu leise und immer dieses ewige Legato – wir brauchen mehr Text!“ Ich
selbst war ja erstaunt, als ich den Lohengrin studierte, wie oft Wagner
piano notiert hat, zum Beispiel bei „Nie sollst du mich befragen“! Und
das ist ja gerade das Außergewöhnliche: dass ein Superheld, der mit
einer riesigen Chorszene angekündigt wird, zur Begrüßung keine
heldischen Töne losläßt, sondern unheimlich zärtlich mit dem Schwan
spricht. Das ist für mich ein deutliches Zeichen, dass Wagner gar nicht
wollte, dass Lohengrin von vorne bis hinten den Helden mimt.
MJ: Seit Ihrem Lohengrin-Debüt sind Sie regelmäßig in München zu hören,
aber es gab einige Jahre, wo man den Eindruck haben mußte: Offenbar gilt
der Prophet nichts in der eigenen Stadt.JK: Tja, das war
für mich ziemlich bitter. Ich meine, nach den ersten großen Erfolgen in
Stuttgart wäre es naheliegend gewesen, mich öfter nach München zu holen.
Aber ich habe in den Jahren zwischen 1998 und meinem Rollendebüt als
Lohengrin bei den Opernfestspielen 2009 ganze vier Aufführungen an der
Bayerischen Staatsoper gesungen.
MJ: Sie sind halt kein
Händel-Spezialist.JK: Gut, aber nun gab es zwischen den
Händel-Opern hier immer noch Mozart, Verdi und Puccini. Warum ich da
nicht ins Konzept paßte, weiß ich bis heute nicht. Aber Schwamm drüber!
Ich freue mich sehr, dass sich die Zeiten geändert haben und dass ich
seit letztem Jahr auch regelmäßig in München singen darf. München ist
halt meine Stadt, ich bin hier aufgewachsen, hab hier als Kind im Chor
gesungen und hier begann mein Opernleben. Hier hab ich als Knirps meine
erste Vorstellung gesehen, eben besagte „Butterfly“, das war mein
Türöffner zur großen Zauberwelt der Oper. Seitdem habe ich davon
geträumt, eines Tages mal selber auf der Bühne des Nationaltheaters zu
stehen. Meine ersten Bühnenschritte machte ich dann im Extrachor des
Gärtnerplatztheaters. Meine Gesangsausbildung, mein Studium, meine
gesamte „musikalische Sozialisation“ fand in München statt. Insofern ist
die Bayerische Staatsoper für mich natürlich nicht ein Haus von vielen,
sondern mein musikalisches Zuhause. Hier singen zu dürfen, ist für mich
immer wieder ein ganz besonderes Erlebnis.
MJ: Können Sie
heute noch eine Oper mit Kinderaugen sehen?JK: Ja und nein.
Nein deshalb, weil man irgendwann in jedem Bereich seine Unschuld
verliert, so auch als Zuschauer in der Oper: Man kann ja nicht alle
Erfahrungswerte, all die Erinnerungen an gute und schlechte Aufführungen
einfach ausblenden, sobald der Vorhang hochgeht. Und ja deshalb, weil
ich es auch heute noch erlebe, dass mich eine Aufführung so fasziniert,
dass ich einfach mit großen Kinderaugen dasitze und mich von der
wunderbaren Welt der Oper verzaubern lasse. Passiert zwar selten, aber
es passiert nach wie vor.
MJ: Wie erleben Ihre Kinder die
Oper?JK: Wenn sie überhaupt damit konfrontiert werden, dann
meistens positiv. Gut finde ich, dass es durch CD und DVD möglich ist,
Kinder schrittweise an die Oper heranzuführen. So werden sie nicht
überfordert und ihre Neugier bleibt erhalten. Ansonsten versuchen wir,
die Kinder nur in altersgemäße Produktionen mitzunehmen. Und wenn sie
dann bereits mit der Handlung und der Musik vertraut sind, ist ihre
Bereitschaft zum aufmerksamen Zuhören auch viel größer.
MJ:
Ist Kunst noch ein Ort der Freiheit?JK: Ich hoffe doch!
Denn welchen Sinn hätte all das Theater, wenn es nicht in jeder
Aufführung mindestens einen Menschen im Publikum gäbe, der sich nach der
Vorstellung anders fühlt als vorher, der die schönen Künste nicht nur
als angenehme Unterhaltung empfindet, sondern als Ausdruck von Hoffnung
und Freiheit inmitten einer Welt von Zwängen – und das nicht nur bei
Befreiungsopern wie „Fidelio“. Wenn bei einer Aufführung alles stimmt,
kann sie immer noch diese befreiende Kraft haben, die die alten Griechen
Katharsis nannten, „Reinigung der Seele“. Ein hehres Ziel, nach dem wohl
jeder Künstler strebt.