crescendo:
Was ist für Sie Arbeit?
Jonas Kaufmann: Interviews zum Beispiel (Lachen).
crescendo: Und Kunst?
Kaufmann: Das wunderbarste der Welt.crescendo:
Kunst ist schön … , sagt Karl Valentin …
Kaufmann: Macht aber viel Arbeit. Das sagt er auch. Den
Begriff Arbeit kann man sehr weit fassen. Ein Lehrer fragte uns, wie lange
wir uns täglich mit unserer Stimme beschäftigen. Eine Stunde, eineinhalb?
Dachten wir. Doch er meinte, viel viel länger. Als Sänger wacht man morgens
auf und der erste Gedanke ist: Wie geht es der Stimme? Die ersten Anzeichen
einer Erkältung erfordern sofort Maßnahmen. Unbewusst beschäftigt man sich
damit den ganzen Tag.
crescendo: Schon seit Ihrer Jugend?
Kaufmann: Ja. Ich habe immer gerne gesungen, mich zur
Schau gestellt, Quatsch gemacht, das war meine Rolle. Doch erst ein langer
mühsamer Weg voller Arbeit ließ mich zu meiner wirklichen Stimme finden.
crescendo: Inwiefern?
Kaufmann: Die große Schwierigkeit beim Singen ist: Es
gibt keine ganz feste Technik, wir arbeiten mit Vorstellungen, unsere
Muskeln können nur reflexartig reagieren und nicht bewusst angesteuert
werden. Wir müssen uns Bilder, Situationen vorstellen, und dann die ideale
Kehlkopfhaltung finden, aus der heraus wir diese gestalten können. Dabei
kann viel schief gehen, wie zunächst bei mir. Anfänglich hatte ich null
Tiefe, meine Stimme klang wie Micky Maus, ganz “kopfig” und mit ein bisschen
“Edelknödel” im Hals, manchmal blieb mir auf der Bühne die Stimme selbst in
kleinen Partien weg. Ich war erschöpft, falsch beraten, noch während meines
ersten Engagements in Saarbrücken wusste ich, dass ich so nicht weiter
machen kann.
crescendo: Warum die Quälerei? Wollten Sie nicht Mathematiker werden?
Kaufmann: Ich war fasziniert von Zahlen, fand die Suche
nach der Formel, die einem den Weg weist, beglückend, dieses “jetzt geht
alles auf”. Doch ich sah keine große Abwechslung, wusste, dass in der
Mathematik alles immer gleichförmig und theoretisch bleiben würde. In der
Musik aber fand ich Freiheit.
crescendo: Heute singen Sie auf allen Bühnen der Welt. Haben Sie die
Singformel gefunden?
Kaufmann: Zum Glück lernte ich einen anderen Lehrer
kennen. Er holte eine andere Stimme aus mir heraus: “Mach doch mal deinen
Mund auf beim Singen! Lass deine Stimme heraus!” Ich sollte ein
Selbstvertrauen zu meiner Stimme aufbauen - ohne etwas zu manipulieren, zu
schieben oder zu drücken.
crescendo: Von Herakles heißt es, er habe seinen Musiklehrer Linos
mit der Leier erschlagen.
Kaufmann: (Lachen) Ich will keinem Lehrer etwas
vorwerfen, keiner kann in einen hineinsehen. Man empfahl mir, alles langsam,
vorsichtig und leise zu machen, gemäß dem Motto: “Je mehr man sich schont,
umso geringer die Gefahr, die Stimme kaputtzumachen.” Klingt logisch, doch
wenn man den Motor auf nur einem Zylinder laufen lässt, und die anderen
schont, dann geht der Motor kaputt. Amerikaner nennen das “undersinging”.
Ich musste hart arbeiten.
crescendo: Kunst ist also auch 90 Prozent Transpiration und 10
Prozent Inspiration?
Kaufmann: Da ist etwas dran. Die Arbeit ist die
Voraussetzung für jegliche Gestaltung und Ausübung der Kunst. Wenn das
Fundament stimmt und die Technik verinnerlicht ist, dann erst kann ich mich
bei der Interpretation der Inspiration hingeben. Es dauert sehr sehr lange,
bis man so weit ist.
crescendo: Das Publikum liebt das Genie, die genialische Gebärde.
Niemanden interessiert, wie mühselig das Ganze ist.
Kaufmann: Das stimmt, doch das Ziel ist auch: Die Mühe
darf man nicht sehen. Das Kunstwerk lebt von der Leichtigkeit, der
Selbstverständlichkeit, der Natürlichkeit. In dem Moment, wo es nach Arbeit
aussieht, verliert es an Glanz und Glaubwürdigkeit, weil man dann den
Menschen sieht, der dahinter steht. Das darf nicht sein. Ein Kollege
schilderte mir “sein” Rezept. Er meinte, wenn das Publikum merke, wie schwer
es sei und mit ihm leide, dann hätte er viel mehr Erfolg, als wenn er so
singt, als sei es ein Spaziergang. Für mich ist das nichts.
crescendo: Das Publikum aber ist launisch, unfair, es belohnt den
hochvirtuosen Effekt, der technisch oft einfacher zu vollführen ist als etwa
die leise innig empfundene Phrase.
Kaufmann: Das stimmt. Man selbst kennt solche schweren
Stellen sehr genau, man ahnt, wenn man sie verpatzt, dann merkt das
vielleicht keiner, aber man selbst. Mir selbst zu beweisen, dass ich dies
beherrsche, ist mir vielleicht noch wichtiger als die spontane Reaktion des
Publikums.
crescendo: Die Physik definiert Arbeit als “Kraft x Weg”.
Kaufmann: So gesehen stimmt das sogar, obwohl das
natürlich kein streng wissenschaftliches Argument ist. Aber man weiß, dass
Musik und Mathematik gleiche Hirnregionen beschäftigen. Ohne Systematik geht
in der Musik nichts.
crescendo: Was ist für Sie keine Arbeit?
Kaufmann: Auf der Bühne zu singen.
crescendo: Wird die Arbeit mehr oder weniger?
Kaufmann: Auf der Bühne zu stehen, wird immer schöner.
Ich will vielseitig sein, und schaue, dass ich gleich viele deutsche,
italienische, französische Partien im Repertoire habe. Neben einer Matinee
bei den Salzburger Festspielen mit französischen, englischen und deutschen
Liedern, trete ich im “Lohengrin” und der “Traviata” mit Angela Gheorghiu in
München auf. 2010 mache ich “Carmen”, 2012 “Parsifal”. Mein Coach hilft mir
dabei, sie ist das Ohr, das man selber nicht hat, weil man sich ganz anders
hört. Der Pflichtteil, das Drumherum, aber ist sehr mühsam geworden, das
ständige Reisen, den Kalender zu organisieren …
crescendo: Karl Valentin war nie zufrieden.
Kaufmann: Irgendwann kamen wir mit Lehrern ins
Philosophieren, sprachen über Wunderlich, Prey und andere große Sänger. Am
Ende fanden wir: Alles sei ein großer Kreislauf. Zunächst das Baby, das
schreit ohne heiser zu werden, ohne darüber nachzudenken. Dann der
Jugendliche, der unter der Dusche singt und spürt, dass mit der Stimme etwas
passiert. Dann der erste Gesangslehrer, der alles erklärt. Jetzt wird alles
bewusster und plötzlich geht überhaupt nichts mehr. Die Gesangstechnik so zu
automatisieren, dass man wieder zu der Natürlichkeit des Babys gelangt, ist
ein immerwährender Prozess, der nie aufhört. |