Magazin der Berliner Philharmoniker
Ein Gastkommentar von Jonas Kaufmann
 
Gratis-»Kultur« ist das Ende jeder Kultur Ein Gastkommentar von Jonas Kaufmann
Würden diejenigen, die alles umsonst haben wollen, auch ihre eigenen Leistungen der Allgemeinheit gratis zur Verfügung stellen? Mit dieser rhetorischen Frage könnte man die ganze aktuelle Diskussion über Leistungsschutz- und Urheberrecht eigentlich ad acta legen. Sollte man meinen. Aber - und das ist es, was mich wirklich beunruhigt - dieser Transfer von einer künstlerischen zur eigenen Leistung wird regelmäßig ignoriert, selbst von intelligenten Menschen. Als wären Künstler per se schon so wohlhabend, dass sie nicht vom Verkauf ihrer Werke leben müssten. Aber wovon sollen zum Beispiel Schriftsteller und Komponisten leben, wenn nicht davon? Von staatlichen Zuwendungen à la Hartz IV? Von Sponsoren und Mäzenen?

Lässt man einmal die »Vanity Press« beiseite, deren Strukturen Umberto Eco in seinem Roman »Das Foucaultsche Pendel« virtuos beschreibt, würde die Buchproduktion sofort zum Erliegen kommen, wenn Schriftsteller für ihre Arbeit weder Honorar noch Tantiemen bekämen. Dasselbe gilt für Komponisten. Man muss dieses absurde Szenario wirklich einmal zu Ende denken und sich vorstellen, wie unsere Welt dann aussähe: ohne neue Literatur, ohne neue Musik, ohne Fotografen, ohne Grafiker und Maler. In logischer Konsequenz gäbe es auch kein Patentamt mehr; somit keine Innovation und keine Erfindung, die vor Plagiaten geschützt ist. Was ist Kunst denn anderes als das Finden respektive Erfinden einer neuen Ordnung und Form, eines neuen Musters und Rhythmus?

Was nichts kostet, ist nichts wert. Und was nichts wert ist, hat keinen Bestand. Gratis-»Kultur« ist der Anfang vom Ende jeder Kultur: Eine Gesellschaft, die künstlerische Kreativität und geistiges Eigentum zum Nulltarif fordert und gleichzeitig den Wert von Dienstleistung und Verwaltung immer höher schraubt, ist auf dem besten Weg, die Horrorszenarien wahr werden zu lassen, die George Orwell und andere in ihren Zukunftsromanen beschrieben haben.

Ausübende Musiker wie ich scheinen davon nicht so sehr betroffen zu sein: Wir bekommen unser Geld ja hauptsächlich für Liveauftritte, sind also nicht so abhängig vom Vertrieb und Verkauf unserer Werke wie Komponisten und Schriftsteller. So steht es jedenfalls immer wieder in den Internetforen zu lesen. CDs und DVDs sind doch eine tolle Reklame für unsere Konzerte und Aufführungen, das reicht doch, wozu noch extra Kohle für »Zweitverwertung« einstreichen, wo wir doch eh schon überbezahlt sind? Zugegeben: Auch in der Klassikbranche gibt es das Syndrom, das der Musikjournalist Jürgen Kesting als »Überreizung der Erwerbsdrüsen« beschrieben hat. Aber das trifft nur in Einzelfällen zu, eben bei jenen, die den Hals nie voll genug kriegen.

In den allermeisten Fällen geht es nicht in erster Linie um den Zusatzverdienst, sondern darum, die eigene künstlerische Leistung vor Ausbeutung und Entwertung zu schützen. Wenn wir CDs und DVDs »für umme« machen, während andere daran verdienen, entwerten wir unsere Leistung. Und wenn CDs und DVDs nur noch als Werbeträger für den Livemarkt produziert werden, d. h. mit ihrer Veröffentlichung für jedermann gratis verfügbar sind, dann wird es bald keine mehr geben. Dann wäre die Tonträgerbranche genauso schnell kaputt wie der Buchmarkt. Schon aus diesem Grunde bin ich unbedingt dafür, dass jede Piraterie von kommerziellen Aufnahmen streng verfolgt wird. Ich werde mir auch die Zeit nehmen, um die unzähligen Clips, die es von mir bei YouTube gibt, auf illegale Veröffentlichungen kommerzieller Aufnahmen zu durchforsten.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich habe bei You-Tube viele Raritäten entdeckt. Wo sonst findet man TV-Dokumente wie die »Tristan«-Highlights unter Leonard Bernstein mit Martha Mödl und Ramon Vinay oder das Verdi-Requiem mit Scotto, Horne, Pavarotti und Ghiaurov unter Abbado? Gäbe es solche Dokumente auf DVD oder bei Download-Anbietern, würde ich selbstverständlich dafür bezahlen, so wie ich jeden Monat mein Download-Abo bezahle, das es mir ermöglicht, Opern wie »Ariadne auf Naxos« und »Il Trovatore« in allen verfügbaren Aufnahmen zu hören.

Aber manche Raritäten gibt es eben nur bei YouTube oder bei RapidShare. Wenn es sich also nicht um geklaute Industrieaufnahmen handelt, sondern um private Mitschnitte, die ein einmaliges, unwiederbringliches Ereignis festhalten, finde ich nichts Ehrenrühriges daran, solche Aufnahmen zu verbreiten. Solange keine Plattenfirma das Vorrecht der Veröffentlichung hat - worin bestünde der Schaden? Und wenn ich mir zum Beispiel besagte RAI-Aufnahme vom Verdi-Requiem bei YouTube ansehe, heißt das ja nicht, dass ich deshalb auf den Kauf einer guten kommerziellen Aufnahme verzichte und somit den Tonträgermarkt schädige; sondern es besagt lediglich, dass mich solche Raritäten zusätzlich interessieren.

Auf meine eigenen Aufnahmen bezogen: Wieso sollte ich die Verbreitung von Opernmitschnitten verhindern, die es in dieser künstlerischen Konstellation nicht auf CD oder DVD gibt? Dass von mir mehrere »Tosca«-Versionen im Internet kursieren, wird mit Sicherheit keinen negativen Effekt auf den Verkauf der geplanten DVD von meiner Londoner »Tosca« mit Angela Gheorghiu und Bryn Terfel haben. Sängerliebhaber und Sammler von Liveaufnahmen haben niemals nur eine Variante im Regal und werden schon gar nicht eine gute DVD für einen Audiomitschnitt liegen lassen.

Lange Rede, kurzer Sinn: Bei der Diskussion um Urheber- und Leistungsschutzrecht sollte man nicht nur den kommerziellen, sondern immer auch den künstlerischen (Seltenheits-)Wert im Auge behalten. Denn vergessen wir nicht: Ohne die Initiative von Musikliebhabern, die all die Liveaufnahmen der 1950er- und 1960er-Jahre auf CD herausgebracht haben, wäre unsere Musikwelt um vieles ärmer. Es gäbe nicht die »wilde« Callas aus Mexiko, es gäbe so gut wie nichts von legendären Primadonnen wie Magda Olivero, Leyla Gencer und Virginia Zeani, es gäbe keinen »Otello« mit Domingo und Carlos Kleiber. Und solange man sorgsam zwischen solchen Raritäten und gestohlener Ware unterscheidet, werde ich Foren wie YouTube in erster Linie als aufregende Fundgrube ansehen.

 
 






 
 
  www.jkaufmann.info back top