Die Zeit, 25.07.2010
Christine Lemke-Matwey
Weltmarke auf dem Prüfstand
Sechs Wochen bei den Proben zum neuen "Lohengrin": Auf der Suche nach dem Geheimnis der Bayreuther Festspiele.
Es ist ihr erstes Mal. »Unsere Premiere!«, jauchzt Hans Neuenfels, am Himmel über Bayreuth zuckt und wetterleuchtet es, der Kantinenwein rinnt, und selbst Andris Nelsons, den man bislang nur mit Teebeuteln übers Gelände ziehen sah, trinkt in großen erregten Zügen aus seinem Römer. Vier Wochen nach Probenbeginn sitzen der Lohengrin-Regisseur und der Lohengrin-Dirigent zum ersten Mal richtig zusammen, reden, sinnieren, spekulieren, über Werkstatt und Utopie und den Graben-Blues, über Elsas Empfänglichkeit, den Schwan als Totenvogel und anderes Getier. Bis tief in die Nacht reden sie, Nelsons in holprigem Deutsch, Neuenfels in immer holprigerem Englisch, bis sie ganz beseelt voneinander sind. Das muss es sein, das Wagner-Glück: atmen, trinken, Blitze gucken, als wäre das ganze Leben ein Gesang.

»Unsere Premiere!«, das meint auch: Wenn am 25. Juli die Merkels und Adabeis zur Eröffnung der 99. Bayreuther Festspiele anrücken, werden die Künstler nicht viel voneinander haben. Also feiern sie jetzt, mit aller Bangigkeit in den Knochen. Vier Bühnenorchesterproben haben sie nur, unüblich wenig, pro Akt bloß ein Durchgang plus Korrekturen – wie soll sich da so etwas wie Sicherheit einstellen? Mit am Kantinentisch hockt das »Gesocks«, wie Neuenfels seine Assistenten nennt, wenn er gut gelaunt ist. Die beiden Hospitanten hat die Festspielleiterin Eva Wagner-Pasquier am Nachmittag aus der Probe geworfen. Telramund, die Bariton-Partie, musste kurzfristig umbesetzt werden, eine stachelige Situation.

Vielleicht tut sich die 65-Jährige gelegentlich mit dem richtigen Ton ein bisschen schwer, vielleicht eifert sie unterschwellig ihrem Vater Wolfgang nach, der jahrzehntelang und bis zu seinem Tod im März der Herr im Haus war. Die Hospitanten jedenfalls sind gekränkt. Noch ist so etwas wie weibliche Autorität auf dem Grünen Hügel ungewohnt. Nicht dass sie »als Mädchen« so aussehen wolle wie der Vater, feixt Katharina Wagner, 32, aber der – eine Generation näher »am Richard dran« – habe es von der Physiognomie her viel leichter gehabt.

1977, ein Jahr vor Katharinas Geburt, jagten seine zweite Frau Gudrun und er Eva vom Hof, ihre Habseligkeiten fand sie in einem Wäschekorb vor verschlossener Tür wieder. Den Korb soll es noch irgendwo geben, auf den Vater aber lässt die verlorene Tochter nichts kommen. Über 150 Postkarten hat er ihr geschrieben, aus der ganzen Welt. Wenn das kein Liebesbeweis ist.

Unter Wolfgang Wagner war das Bayreuther Festspielhaus eine Trutzburg, jetzt, im Sommer nach seinem Tod, öffnet es alle Tore und zeigt »Unbefugten« sein Gedärm, nichts ist mehr tabu. Der Reporterin wird in diesen sechs Wochen kaum etwas verwehrt. Nur auf den Fotos zu diesem Artikel darf kein Zipfelchen eines Lohengrin-Requisits oder -Kostüms zu sehen sein, selbst dann nicht, wenn diese aus Platznot im Gang der Festspielleiterinnenbüros geparkt werden, also außerhalb jedes verräterischen Kontextes. Im vergangenen Jahr, erzählt Katharina, lagen vor ihren Türen die Leichen aus Stefan Herheims Parsifal-Inszenierung. Sie sei jedes Mal erschrocken, diese gedunsenen Gesichter, das eklige Blut. Im Lohengrin-Jahr bietet sich ihr erneut kein sonderlich angenehmer Anblick. Aber ein ästhetischer: Reinhard von der Thannen, der Bühnenbildner, hält nichts von naturalistischer Mimikry.

Drinnen im Büro braucht Eva Wagner-Pasquier den Schreibtisch von Großmutter Winifred und historische Ring-Figurinen an der Wand, um sich sicher zu fühlen; Katharina hat so etwas nicht nötig, bei ihr ist alles Plexiglas und Brombeere (die Farbe der Festspiel-Corporate-Identity). Eva wohnt möbliert, unten in der Stadt; Katharina residiert in der elterlichen Villa auf dem Hügel. Eva denkt viel an früher, ihre Dienstplätze sind wunschgemäß die, auf denen sie von 1951 bis 1977 mit ihrem Bruder Gottfried saß: Reihe I links, Nummer 8 und 9. Katharina denkt mehr an die neuen Tarif- und Gesellschafterstrukturen und daran, dass der Rechnungshof das Kartenprogramm bereits vor zwei Jahren als »nicht revisionsfähig« eingestuft hat. Eva trägt Yamamoto, Katharina neongrün lackierte Fußnägel und gern einen rasselnden Schlüsselbund in der Hand. Was für ein schräges Schwesternpaar!

Als »Erbtanten« hat Hans Neuenfels sie tags zuvor beschimpft. In der Auseinandersetzung ging es, wie so oft, um die Probendisposition. Die Arbeitsbedingungen auf dem Grünen Hügel sind mitnichten kommod, von wegen man läge den lieben langen Tag auf der Wagnerwiese, und die Inspiration flöge einem wie eine gebratene Taube ins Maul. Neuenfels (»Ich bin 69 Jahre alt, am Ende meines Lebens und kaputt!«) hat nichts zu verlieren, er kann es sich leisten, die Weltmarke Bayreuther Festspiele auf den Prüfstand zu stellen. Und tut es, nach Kräften. »Was ist uns das Erbe Bayreuth?« – diese Frage, verdammt, hätten die Schwestern zu beantworten, sonst bliebe das ganze Gerede von der »Werkstatt« ein Witz, jedes »Hier gilt’s der Kunst!« schnöde. Selbstverständlich kann eine vernünftige Antwort nichts anderes als die »Ausweitung des Standorts« zur Folge haben, wie Neuenfels das nennt, die »Ausreizung des Materials Theater«.

Größere Kapazitäten also für die Schneiderei, mehr Zeit für Chor, Technik und Licht, letztlich mehr Geld – und die Renaissance eines Wagner-Denkens, das seine Utopien nicht länger Lügen straft, sondern sich als gesellschaftlichen Kraftspeicher und Gral versteht. Sind das bloß die Fantasien des sentimentalen Alt-68ers Neuenfels? Bei Sonnenuntergang, wenn man sich vom Weiler Hochtheta aus dem Hügel nähert, wo sie ein herrliches fränkisches Bier brauen und das Korn mit seinen Mohn- und Kornblumentupfern in Flammen steht, meint man das Haus förmlich glühen, ja implodieren zu sehen. Wie ein Raumschiff bei der Landung.

Neu-Bayreuth 2010: Die Situation ist lohengrinös. Wie die Exklusivität wahren – und doch nicht aus der Welt fallen? In New York oder München bekommt der Tenor Jonas Kaufmann alias Lohengrin schätzungsweise dreimal so viel Gage wie in Franken. Dafür muss es gute Gründe geben. Sie liegen in der Vitalität des Mythos, im Luxus von Konzentration und Beharrlichkeit. Vielleicht braucht es einen alten Rebellen wie Hans Neuenfels, um diese Einzigartigkeiten noch einmal herauszupräparieren.

Sein erstes Bayreuther Engagement kommt spät und trifft in seinem Enthusiasmus auf einen längst gewandelten Betrieb. Die Künstleragenturen würden den Festspielen etwas husten, wenn diese die Probenzeit verlängerten, ebenso die Opernhäuser, aus denen sich Orchester und Chor rekrutieren. Vor allem aber verhindert es der seit diesem Sommer geltende Tarifvertrag, Produktionsprozesse effektiver und künstlerisch sinnvoller zu gestalten. Ein gestandener Beleuchter verdient nun 16 Euro pro Stunde, 5 mehr als bisher.

Gleichzeitig aber darf die Schneiderei keine Überstunden mehr machen, was dazu führt, dass Annette Dasch für ihre Elsa-Kostüme mindestens elfmal zur Anprobe muss. Und während sie in einem unaussprechlich engen Kabuff Kostüme anprobiert, kann sie weder üben noch singen, noch sich ausruhen. Struktur essen Kunst auf? Das größte Problem, die zukünftigen Tarifsteigerungen, ist im Verwaltungsrat der Festspiele noch nicht einmal richtig diskutiert worden.

»Das ist heute unsere Pre-mi-e-re!«, ruft Neuenfels noch einmal und hebt sein Glas, und Nelsons prostet verschmitzt zurück: »Ja, ja!« Nicht dass es keine Gelegenheit für ein früheres Gespräch zwischen den beiden Debütanten gegeben hätte. Die Atmosphäre aber, der Ortsgeist verlangt das bedingungslose Funktionieren, das lückenlose Räderwerk. Beim kleinsten Innehalten oder Zaudern werden sie hier hibbelig. Als kämen Irrtümer, Revisionen, Korrekturen am besten gar nicht vor, als habe man nur eine Chance. Wo da die Kunst bleibt? Die Kunst, betont Katharina Wagner in ihrer Eigenschaft als Intendantin und Regisseurin, liege »ganz viel« in der Vorbereitung. »Das war schon immer so.«

Die Entwürfe, Materialproben und Detailstudien zu Lohengrin, die Reinhard von der Thannens Planschränke füllen, scheinen das zu bestätigen. Gefertigt wurden Kostüme und Dekorationen vielfach nicht in den Bayreuther Werkstätten, der Kosten und der Qualität halber. Bratislava ist nun einmal besser, schneller, billiger. Letztlich verdankt sich die Ästhetik dieses Lohengrin dem italienischen Sportwagenhersteller Lamborghini. Zu dessen Entwicklungsabteilung pflegt von der Thannen beste persönliche Kontakte. Materialien wie das Lederimitat, mit dem die Wände des Bühnenraums bespannt sind, Formen wie das Schwanenboot oder die Kopfbedeckungen des Chores wären anders in dieser Perfektion niemals herstellbar gewesen. Lohengrin und Lamborghini – ein hübscher, zukunftsträchtiger Stabreim? Die Festspiele kostet diese Connection jedenfalls keinen Cent.

Um das alles koordinieren zu können, Bayreuth und Nichtbayreuth, Computersimuliertes und handfest Geschlossertes, hat sich der Ausstatter ein Arsenal von Bachblütenkaugummis zulegen: »Notfall«, »Energie«, »Konzentration« und »Selbstvertrauen« heißen seine Sorten, gerne kaut er zwei oder drei durcheinander. Es ist nicht immer leicht, mit dem Druck auf dem Hügel umzugehen. Hans Neuenfels darf rauchen, sogar im Allerheiligsten, dem Zuschauerraum; als Aschenbecher haben sie ihm eine Keksdose mit Sand unter den Regietisch gestellt. Nicht auszudenken: Ein winziger Wutanfall würde reichen, die hehre Bretterbude in Brand zu stecken…

Doch auch an Neuenfels’ Trinkerei gewöhnt man sich rasch. Bei aller Hinfälligkeit verliert er niemals die Würde, nie eine gewisse Anmut, ja Grazie. Der Hans, sagt Evelyn Herlitzius alias Ortrud im Brustton, sei ein Herr. Reinhard von der Thannen, der seit Jahrzehnten mit ihm arbeitet, siezt ihn bis heute, so groß sind Ehrfurcht, Liebe und Bewunderung. Das Du habe er einfach nicht über die Lippen gebracht, flüstert er. Wenn man sieht, wie dicht er oft neben Neuenfels kauert, dann ahnt man, wie panisch die Angst des Regisseurs vor der Leere sein muss, davor, nicht mehr berührt zu werden. Wer nicht singt, murmelt Neuenfels mit Blick auf die am Boden liegende Elsa, ist schon tot.

Manchmal freilich, wenn es gar zu viele Flaschen werden, lässt ihn die Konzentration im Stich. Dann weiß er nicht mehr, wo er ist und was er wollte, dann erlischt sein Mut, und wehe, das liebe »Gesocks« pariert nicht gleich und rettet ihn. Wenn der Pegel aber stimmt, besitzt dieser Mann die Gabe, sich derart in Trance, ja in eine poetische Rage zu reden, dass die Wörter wie Luftgeister miteinander zu tanzen beginnen. Typische »Hans-Sätze«, wie Herlitzius sagt. Sätze, die in den Köpfen des Gegenübers etwas entzünden, Fenster aufreißen, nicht zuletzt, weil sie sich aus einem Zustand des Berauschtseins speisen. Sätze wie (zu Elsa): »Der Faden der Auffälligkeit muss beibehalten werden.« Oder (zu Lohengrin vor der Gralserzählung): »Das Schweigen der Welt ist über mir.«

Die Frauen, Annette Dasch und Evelyn Herlitzius, sind für diese Form von sprachlicher Erotik hoch empfänglich. Jonas Kaufmann wehrt sich eher dagegen, versucht anfangs, zu argumentieren, oder albert herum. Neuenfels seziert das intuitiv. »Jonas, lass das!«, lautet jeder zweite Satz aus seinem Mund, er pufft und knufft und herzt seinen Startenor, geht ihn körperlich an, bittet zur Vier-Augen-Audienz – bis er ihn so weit hat. In der Stellprobe zum Brautgemach fasst Kaufmann sich plötzlich an den Kopf, weil er merkt, über welches Aggressionspotenzial dieser Lohengrin verfügt, und in der Improvisation der Szene mit einer hellwachen, extrem regiefühligen Elsa geht dann alles sehr schnell. Professionell schnell. Großartig.

»Ich inszeniere ja ganz konventionell«, sagt Neuenfels, »das mache ich immer so.« Wenn nur die Chorkostüme nicht wären, die im ersten Akt an Fleischerhaken aus dem Schnürboden baumeln. Eine Schlachthofmetapher, ein schauriges Bild, zumal es sich bei den Kostümen (jenen, die den Intendantinnenflur säumen) quasi um tierische Häute handelt, mit langen gerippten Schwänzen dran. Lohengrin ist eine Choroper, dem Pathos und Überwältigungsfuror in »Heil König Heinrich! König Heinrich Heil!« muss eine Regie schon die Stirn bieten.

Anders als anfangs böse vermutet, sind gar nicht die Stars und ihre Allüren das Problem. Ob Kaufmann erst zwei Wochen später zu den Proben erscheint, weil er parallel in München Tosca singt, ob Dasch, schwer erkältet, eine Woche versäumt – das rüttelt weniger an den Grundfesten der Werkstatt Bayreuth, als es die strukturellen Zwänge und die mentalen Desiderate tun. Es sind die »einbrechenden Momente«, sagt Neuenfels, denen sich der Grüne Hügel widmen müsse, dem Unvorhergesehenen, nicht Disponierbaren, sonst verarme die Substanz und aller Wagner-»Duft«. Spätestens dann aber sei es hier »wie immer und überall«.

Generalprobe. Traditionell mit Publikum. Andris Nelsons, der gelitten hat, weil es mit guten Ohren und Enthusiasmus allein im »mystischen Abgrund« des extratiefen Orchestergrabens nicht getan ist und er sich kapellmeisterlich ganz neu disziplinieren muss, Nelsons wird nach den entrückten, den »angelischen« Momenten in der Partitur suchen, wie er sagt, wenn »Jesus übers Wasser geht« und die Zeit stillsteht. Ganz gleich, wie die öffentliche Resonanz ausfällt: Nelsons’ hochosmotische Zusammenarbeit mit Hans Neuenfels darf als eines jener Wunder gelten, die so nur in Bayreuth gedeihen.

Bayreuth aber wäre nicht Bayreuth, wenn es nicht immer irgendwo krachte. Seit Januar hat Georg von Waldenfels – den viele nur den »Schorsch aus Hof« nennen, weil er ein adoptierter Blaublüter ist – den Vorsitz der »Gesellschaft der Freunde von Bayreuth« inne. Als einer von vier Festspielgesellschaftern besitzt die GdF Macht und Geld, und der Schorsch scheint beides mehren zu wollen. Der frühere bayrische Finanzminister, Rechtsanwalt und Präsident des Deutschen Tennisbundes ist Katharinas Grundstücksnachbar auf dem Festspielhügel und kommt nun in den Genuss von allerlei Interna. Bloß eine Pikanterie? Der Kampf alter Männer gegen eine junge Frau, deren lange Fingernägel, wie es heißt, nicht gefielen? Oder gar der Anfang vom Ende des Versuchs, eine utopische Institution wie die Bayreuther Festspiele auf demokratische Füße zu stellen?

Die Schwestern, nicht faul, solidarisierten sich daraufhin mit einem neuen Verein: »TAff« heißt dieser, Team der aktiven Festspielförderer; zu den Gründungsmitgliedern gehört immerhin Christian Thielemann. Dem echten Wolfgang Wagner hätte solche Chuzpe gefallen. Sein rotes Klappstühlchen auf der linken Seitenbühne, von dem aus er über 1300 Vorstellungen verfolgte, hat Eva zu Beginn der Probenzeit vorsorglich mit einem dicken Strick gesichert. Auf dass für diesen Sommer kein Unbefugter darauf Platz nehme.
 






 
 
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