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Der Tagesspiegel, 27.07.2010 |
Christine Lemke-Matwey |
Den Kritikern gehört das letzte Wort
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Wagner-Werkstatt (14) |
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Das gab's noch nie: Eine Journalistin, die in
Wagners Allerheiligstes vorgelassen wird und dort die nächsten sechs Wochen
zubringen darf. Diesmal trifft sie Jonas Kaufmann, Tenor und Star des neuen
Bayreuther "Lohengrin".
Für den Bayreuther Bahnhofskiosk ist der 27. Juli ein Tag wie Kerwa (=
Kirchweih), Weihnachten, goldene Hochzeit, Ferienbeginn und Himmelfahrt
zusammen: Heute erscheinen die Premierenkritiken. In sich biegenden Stapeln
liegt die nationale und internationale Presse bereit, der Herr vor mir kauft
"Le Monde" und "La Repubblica", die Dame hinter mir die Münchner "tz", die
Salzburger und die Passauer Neuesten "Nachrichten". Bayreuth ist nun einmal
der Nabel der Welt, heute ganz besonders. Fast wundert man sich, dass in der
"Lohengrin"-Premiere neben Frau Merkel und Herrn Seehofer auch ein paar
Nicht-Journalisten noch Platz gefunden haben.
Es ist 7:38 Uhr, und die Kassenfrau schwitzt. Draußen lärmen Schulkinder,
drinnen wird die Schlange lang und länger, und das Lottoscheinlesegerät
spinnt. Wer kommt denn auch bloß auf die Idee, seinen
Kombisupersystemsonstwas-Lottoschein hier und heute ausgerechnet vor 10 Uhr
abgeben zu wollen? Dem Kombisupersystemsonstwas-Lottoscheinbesitzer ist
sichtlich mulmig zumute, aber es hilft ja nichts. Um zehn, sagt die
Kassenfrau, herrscht wieder Ruhe. Spätestens um zehn sind alle Zeitungen
verkauft und zwar restlos, aus-ver-kauft. An diesem 27. Juli stoßen sich,
was ihre Auflagen betrifft und ohne dass sie das jemals offen legen würden,
regelmäßig ganze Verlagsgruppen gesund. Der Grüne Hügel ist der Gral des
Feuilletons.
Apropos: Früher hatten es alle Sänger, die NIE NIE NIE Kritiken lesen,
eindeutig schwerer, unerkannt an das verhasste Fischeinwickelpapier zu
gelangen. Tarnhelm oder gedungene Einheimische - etwas anderes gab es nicht.
Heute gibt es das Internet. Heute haben alle am frühen Nachmittag des 26.
schon alles gelesen und entsprechend gute oder schlechte Laune. Ich
persönlich finde das schade, für mich hat das mit vorzeitiger Entzauberung
zu tun. So wie das Bayreuther Publikum seine Karten aber nach wie vor auf
Papier bestellen will, auf den Formularen von 1951, so mag es auch seine
Kritiken nicht wirklich online lesen. Also ist am Bayreuther Bahnhofskiosk
auch 2010 wieder schwer was los. Und bei mir in der Bauernhof-WG gibt es
sowieso kein Internet, wie gesagt.
Die Kritiken also und die lieben Kollegen. Diese 14. und letzte Folge der
"Wagner-Werkstatt" stellt insofern ein Sakrileg dar, als das Genre "Kritik
der Kritik" im öffentlichen Diskurs nicht vorgesehen ist. Der Kritiker hat
das letzte Wort, Punktum. Und das ist auch gut so, man stelle sich die
Rattenschwänze (!) an Reden und Gegenreden, an Gegendarstellungen und
Plädoyers vor, da würden wir uns ja heute noch über Patrice Chéreaus
Jahrhundert-"Ring" von 1976 die Köpfe einschlagen! Kritik hat, wenn sie gut
ist, mit Leidenschaft zu tun. Mit Hartnäckigkeit. Genauigkeit. Mit einer
Lust am Denken und Weiterdenken.
Was "Lohengrin" betrifft, so habe ich nicht alles gelesen, da wird man ja
verrückt. Andererseits ist noch nicht alles erschienen, die "Zeit" am
Donnerstag steht natürlich aus, und die "FAS" (die Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung) bereitet bestimmt wieder einen ihrer Lumpensammlerartikel
vor, in dem dann noch einmal steht, was alle anderen schon eine Woche zuvor
geschrieben haben (inklusive der "FAZ" selbst), Bayreuth, Salzburg, Pipapo -
nur kleiner und wichtiger.
Zu den anderen muss ich leider sagen: Das Niveau der Aufführung erreicht
kaum jemand. Ein mittelmäßiger Jahrgang, ohne größere Ausreißer nach oben
oder unten, ohne rechte Funken. Schade. Die einen sind etwas umständlicher,
die anderen etwas schnoddriger, die einen fühlen sich in Zeiten des
Bildungsverfalls mehr zur Inhaltsangabe bemüßigt, die anderen kleben mehr am
Beschreiben. Hans Neuenfels' und Reinhard von der Thannens Regiekonzept wird
generell gut verstanden und gefällt auch fast durchwegs. "Lohengrin" im
Labor: Der "Kölner Stadtanzeiger" lobt die "radikale Verinnerlichung" der
Aufführung abseits alles Deutschen und/oder Deutschkritischen; die "Welt"
wählt, als habe sie sich mit der "SZ" abgesprochen, den Einstieg über
Schwäne, Kröten, Raben, Pferde, Widder, Lindwürmer bei Wagner und also über
dessen mythisches "Bestiarium", in das die
Neuenfelsisch-von-der-Thannenschen Ratten sich ebenso sinnreich wie
rätselhaft fügten; nur der "Nordbayerische Kurier" (mit Abstand der längste
Text) mäkelt ein bisschen herum, unterstellt der Regie "gewollte
Über-Originalität" und allzu verklausulierte Chiffren und sieht in dem
gerupften Schwan, der zum ersten Finale aus dem Schnürboden herabschwebt,
eine "selbstironische Hommage" an die Brathähnchen aus Neuenfels' legendärer
Frankfurter "Aida"-Inszenierung von 1981. Ich fürchte, das geht im
rezensentischen Übereifer dann doch zu weit.
Die "FAZ" wiederum punktet mit der kryptischsten Überschrift: "Schwarze
Schwanenkönigin, wohin führst du uns?". Tja, wohin. Weder steht diese Frage
so im Text, noch taucht Elsa, die im Bild darüber zu sehen ist (ganz in
weiß), jemals im schwarzen Schwanenkleid auf. Das wäre eher Ortrud, die
Böse, die es bekanntlich auf den Thron von Brabant treibt, weswegen sich die
Frage erübrigt. Zum Trost gelingt der "FAZ" die trefflichste Beobachtung von
allen, wenn es heißt, die Inszenierung arbeite mit "suggestiven,
anspielungsreichen Bildern, die unter die Haut gehen, noch bevor man sie
ganz entschlüsselt hat, die lange im Gedächtnis haften und weiterarbeiten".
Über Andris Nelsons Graben-Einstand gehen die Meinungen minimal stärker
auseinander. Der Wiener "Kurier" befindet, dieses Debüt sei fünf oder sechs
Jahre zu früh erfolgt, die "Welt" spricht von einer "unterkühlten
orchestralen Interpretation", und die "FAZ" diagnostiziert
"Koordinationsprobleme". Der "Kölner Stadtanzeiger" hingegen macht in
Nelsons den "wirklichen Star" des Abends aus und rühmt seine "Momente
himmlischer Erfüllung", und auch die "SZ" schwärmt von der Leichtigkeit des
Tons und von der Feinheit der "Orchesterpolyphonie", die der Lette erklingen
lässt. Dieses Dirigat, so schließt der Absatz, gehöre "zum Bayreuth-Besten
der letzten Jahre, neben Christian Thielemanns "Meistersingern" und dem
"Parsifal" von Pierre Boulez." Das mit Thielemann ist natürlich eine Spitze:
Alle Welt kniet vor dem Thielemann-"Ring" (der gerade in sein letztes Jahr
geht) - und der Kollege versteift sich zum wiederholten Mal auf die ollen
"Meistersinger". Auch Kritiker haben ihre Schlagseiten und Obsessionen.
Erstaunlich übrigens, dass Nelsons "Lohengrin" dynamisch eher am unteren
Ende der Skala angesiedelt wird. Er könne es durchaus mehr krachen lassen,
schließlich handle es sich um ein lautes und nicht wirklich Graben
kompatibles Stück, so der aufmunternde Tenor. Mehr "orchestrale Opulenz"
fordert nicht nur der "Nordbayerische Kurier". Aufmunternd? Sechs Wochen
lang wird daran gefeilt, um Gotteshimmelswillen nur ja nicht zu laut zu
sein, zu undifferenziert und massiv im Klang, ein ganzes Haus spitzt
kritisch seine Ohren - und dann das? Vielleicht ist der 31-Jährige auch
einfach nur ein bisschen vorsichtig. Im zweiten Akt, unten im Graben, war's
schon ziemlich laut. Das walte Hugo.
Ebenso erstaunlich, wie wenig die Kollegen sich von den Bravostürmen platt
machen ließen, die erwartungsgemäß auf Jonas Kaufmann herunterprasselten.
Sein Bayreuther Lohengrin, so die "Welt", entbehre jeden "Tenorstrahls" und
ringe um die Musik "wie um emotionales Manna"; Kaufmann fasse Wagner allzu
"belcantistisch" auf, moniert die "FAZ", durch seine "italienische Träne"
gleite so manche Stelle ins Sentimentale ab; und die "SZ" verzeichnet bei
dem Münchner stimmlich "eine große Künstelei". Als eine der wenigen versteht
sie, dass Jonas Kaufmann in Neuenfels' Inszenierung niemand anderen als
Jonas Kaufmann darstellt, eine der derzeit begehrtesten Projektionsflächen
im ganzen Klassikgewerbe, den Star als Tröster und Heilsbringer: "Doch das
alles ist nicht Natur, sondern Mache, die in erster Linie die Bedürfnisse
des Sängermarkts wunderbar bedient." So oder so ähnlich steht das auch im
Programmheft.
Und damit Schluss. Wobei ... Gestern Nacht bekam ich eine SMS von Andris
Nelsons, die mir aus dem Herzen sprach: Am Ende der Proben habe er das
Gefühl gehabt, es müsste ewig so weitergehen mit der Arbeit und der Musik
und den Gesprächen. Vielleicht tut es das ja, habe ich zurück geschrieben,
in allen, die dabei gewesen sind, in uns allen. Und nächsten Sommer gibt es
ein neues "Lohengrin"-Spiel.
Ich für meinen Teil werde jetzt eine kleine Dankeschön-Runde durchs
Festspielhaus drehen. Und die nächsten sechs Wochen nur Bach hören. Und die
Wahrheit über die Bayreuther Festspiele werden Sie aus meinem Mund natürlich
nie erfahren. |
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