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Der Tagesspiegel, 01.07.2010 |
Christine Lemke-Matwey |
Elsa kommt nicht
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Wagner-Werkstatt (12) |
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Das gab's noch nie: Eine Journalistin, die in
Wagners Allerheiligstes vorgelassen wird und dort die nächsten sechs Wochen
zubringen darf. Diesmal trifft sie Jonas Kaufmann, Tenor und Star des neuen
Bayreuther "Lohengrin".
Generalproben sind, wie der Name sagt, Proben - und genauso steht es auf den
Bayreuther Generalprobenkarten auch drauf (fragt sich nur, wer das liest):
"Es wird darauf hingewiesen, dass diese Probe Bestandteil der
Aufführungsvorbereitungen ist und daher nicht den Charakter einer
vollgültigen Vorstellung haben kann. Sie wird gegebenenfalls unterbrochen
oder ganz abgebrochen oder kann für den weiteren Besuch gesperrt werden,
ohne dass dadurch ein Anspruch auf Ersatz gestellt werden kann." Nun muss
man sagen, dass normalerweise natürlich nichts passiert und das GP-Publikum
sich durchaus der Illusion hingeben kann, einer "vollgültigen Vorstellung"
beizuwohnen - kleinere Patzer oder Hänger bemerken sowieso nur die
Eingeweihten. Nicht so bei "Lohengrin". Da kam es jetzt doch ziemlich dicke.
Dass der zweite Akt mit fünf Minuten Verspätung begann, weil ein Schallsegel
auf der Vorderbühne aus der Führung gesprungen war - geschenkt. Das Ding
wurde laut krachend wieder eingerenkt, und es konnte weitergehen; dass der
erste Akt sich in seinen Tempi ein wenig dahin schleppte, war gewiss den
subtropischen Temperaturen geschuldet; und dass man dem neuen Telramund
anmerkt, dass er der neue Telramund ist, weil ihm statt vier Wochen nur vier
Tage Proben in den Knochen stecken, das liegt einerseits in der Natur der
Sache und ist andererseits ja auch beruhigend. Im dritten Akt jedoch, dritte
Szene, kurz bevor Elsa wieder auftritt, stockte dem ganzen Saal der Atem.
"Seht, Elsa naht, die Tugendreiche!", singt der Chor, und König Heinrich
holt gerade tief Luft ("Wie muss ich dich so traurig sehn! Will dir so nah
die Trennung gehn?"), eine Gasse durch die Menschenmassen öffnet sich, um
Elsa durch zu lassen, die Gasse öffnet sich also und öffnet sich, der König
atmet, der Chor singt - und es passiert nichts. Elsa kommt nicht. Elsa ist
abgängig. Große Verwirrung.
"Stopp! Stopp! Stopp!", brüllt Hans Neuenfels an seinem Regietisch, was gar
nichts nützt. Das Orchester spielt weiter, man hört ihn nicht. Eva
Wagner-Pasquier spritzt zur linken Saalseite hinaus, Katharina zur rechten,
die Assistenten wuseln durcheinander, und wahrscheinlich brüllt Hans
Neuenfels immer noch vergeblich "Stopp!". Wo bleibt Annette Dasch?
Inzwischen ist die Musik beim Auftritt von Lohengrin alias Jonas Kaufmann
angelangt ("Mein Herr und König, lass dir melden"), der mit den Achseln
zuckt und weitermacht. Sicher bringt es Unglück, wenn eine Generalprobe
unter- oder gar abgebrochen wird, so wie es Unglück bringt, auf der Bühne zu
pfeifen oder zu essen. Theaterleute sind abergläubisch, auf dem Grünen Hügel
sicher ganz besonders. Die Vorstellung, die keine Vorstellung ist, wird zu
Ende gebracht, koste es, was es wolle. Der Lappen bleibt oben. Und genauso
geschieht es.
Das heißt: Kurz vor der Gralserzählung wird plötzlich Anna Gabler von der
rechten Seitenbühne auf die Szene geschubst, Daschs Cover, schließlich kann
immer irgendetwas sein. Auch Jonas Kaufmann hat ein Cover, den
neuseeländischen Tenor Simon O'Neill, der anfangs für ihn auch die Proben
bestritten hat (siehe Folgen 1 und 2). Den dritten Akt haben die
Regieassistenten mit Gabler und O'Neill just am Mittwoch noch eifrig
probiert - nur leider sind sie dabei nicht bis zum Schluss vorgedrungen. Ob
Anna Gabler nun mit im Saal saß oder sich in der Kantine gerade eine
Erfrischung genehmigen wollte, ein Kügelchen Vanilleeis vielleicht? Jetzt
steht sie jedenfalls im Rampenlicht, so schnell kann's gehen, ohne Maske,
ohne Kostüm, in Sandaletten und Freizeitkluft. Ausgeruhtes Einspringen geht
anders. Vom Zuschauen her aber weiß Gabler, was sie zu tun hat, sie spielt
und singt, was zu singen ist, nicht eben viel mehr bis zum finalen
Elsa-"Ach!" - und dann ist es geschafft, vollbracht.
Wo war Annette Dasch? Die Geschichte klingt fast zu theatralisch, um nicht
erfunden zu sein. Als Dasch nach der Brautgemach-Szene in ihre Garderobe
eilt, um sich umzuziehen, fällt ihr, was sonst, ein Spiegel auf den Kopf. Da
die Solistengarderoben im Bayreuther Festspielhaus alles andere als geräumig
sind und komfortabel (die Dirigentenzimmer heißen hier nur "die
Legebatterien"), hatte ein nicht sonderlich umsichtiger Zeitgenosse den
besagten Spiegel auf einen Schrank gelegt. Dasch öffnet also die Tür, stößt
mit derselben an den Spiegel, dieser fällt ihr auf den Kopf, sie fällt in
Ohnmacht - und wird mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht. Schlimme
Geschichte. Gott sei dank scheint nichts wirklich Schlimmes passiert zu
sein, der Spiegel blieb heil, keine Splitter, keine Schnittwunden, auch
keine Gehirnerschütterung, nur einen Brummschädel und eine Beule, die
Premiere am Sonntag wird sie natürlich singen können.
Apropos Aberglaube: Wer sich in der Oper ein bisschen auskennt, weiß, dass
dieser Vorfall nur ein gutes Omen bedeuten kann. Agathe, der weiblichen
Hauptrolle in Webers "Freischütz", fällt zwar kein Spiegel, aber ein altes
Bild auf den Kopf - und am Ende kriegt sie ihren Max und alles wird gut.
Lyrische Sopranistinnen singen Agathe gewöhnlich vor Elsa, Weber vor Wagner.
Nicht so bei Annette Dasch, die Agathe ist ihr bislang noch nicht begegnet,
sagt sie. Es fühlt sich ganz so an, als würde sich das bald ändern. |
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