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Stuttgarter Zeitung, 24.11.2009 |
Annette Schwesig |
Der Mond ist aufgegangen?
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Stuttgart - Kürzlich bei Opas 75. Geburtstag: das Fest neigt sich dem Ende
zu, draußen ist es längst dunkel, die zahlreichen kleinen Enkel sollen jetzt
mit einem Schlaflied verabschiedet werden. Der Opa geht zum Klavier und ruft
frohgemut in die Runde: "Der Mond ist aufgegangen, die ersten drei
Strophen!" Die erste Strophe, klar, die können alle, auch die Kinder. Dann
bröckelt es: die zweite Strophe kennt nur die ältere und mittlere
Generation, die dritte Strophe singen dann nur noch Oma, Opa und deren
Geschwister. Mit einem fassungslosen Lachen steht der Opa vom Klavierhocker
auf und fragt: "Ja Leute, was ist denn mit euch los? Kennt ihr das Lied
nicht mehr?"
So oder so ähnlich muss es dem Sänger Cornelius Hauptmann ergangen sein, als
er im Sommer 2007 in einem Stuttgarter Gymnasium einen Test durchführte:
Mehrere 12-Jährige werden gefragt, ob sie das Lied "Der Mond ist
aufgegangen" kennen. Nee, nie gehört. Hauptmann kann dies nicht glauben, er
ist entsetzt, er beschließt umgehend, dass dies geändert werden muss. Es
gelingt ihm, innerhalb kürzester Zeit mehr als 120 Mitwirkende - Sänger und
Instrumentalisten, große Namen und kleine Leute - davon zu überzeugen, am
Projekt "Wiegenlieder" teilzunehmen und ein Schlaflied aufzunehmen. Viele
Interpreten sind selbst Eltern, viele haben ihr Wunschlied eingespielt.
Wiegenlieder im Radio
Das Ergebnis liegt nun vor, und es ist nicht bloß pädagogisch sinnvoll,
sondern überzeugt auch künstlerisch. Die erste der beiden CDs ist bereits
seit Oktober erhältlich, ebenso ein vom Stuttgarter Maler Frank Walka
wunderschön gestaltetes Liederbuch sowie ein pianistisch anspruchsvollerer
Klavierband mit den schönsten Schlaf- und Wiegenliedern. Zudem werden die
Lieder, mit einem kurzen Kommentar zur Entstehung versehen, einzeln im
Rundfunk gesendet. SWR 2 startet am kommenden Samstag. Andere
ARD-Rundfunkanstalten folgen und senden ein Jahr lang das "Wiegenlied der
Woche". Der SWR begleitet das Projekt mit Sendungen, die sich mit dem Thema
"Singen mit Kindern" beschäftigen. Und wenn die Unternehmung in einem Jahr
beendet sein wird, dann müsste, wenn alles mit rechten Dingen zugeht, die
Musik in den Kinderzimmern wieder etwas heimischer geworden sein.
Dass mit Kindern zu wenig gesungen wird, ist mittlerweile ein pädagogischer
Gemeinplatz. Das Singen volkstümlicher Weisen galt bei den Eltern, die jetzt
kleine Kinder haben, in deren eigener Kindheit als unzeitgemäß. Damals hat
man lieber der Panflöte südamerikanischer Straßenmusiker gelauscht, als mit
den Kindern ein Wiegenlied der deutschen Romantik zu singen. Das Ergebnis
ist jetzt zu beklagen, da sich die musikalische Abstinenz des häuslichen
Bereichs in den (meisten) Kindergärten und (den meisten) Schulen fortsetzt.
Singen macht gesund und schlau
Dabei ist längst bekannt, wie gesund das Singen für Körper und Seele ist.
Zudem soll es schlau machen, gewiss aber ist die Stimme das erste Instrument
des Menschen überhaupt und Singen, Summen und Tanzen ein großes und
ursprüngliches Bedürfnis aller Kinder. Die Stimme hat am stärksten mit dem
eigenen Körper zu tun, das heißt, Singerfahrung und Körpererfahrung hängen
unmittelbar zusammen. Wer singt, vor allem in der Gruppe, fühlt sich
aufgehoben, er fühlt sich gestärkt. Das haben zahlreiche musikpädagogische
Studien der letzten Jahre belegt.
Die "Wiegenlieder"-Produktion zeichnet sich dadurch aus, dass sie Kindern
nur das Allerbeste zumutet: die besten Sänger, die schönsten Lieder, die
perfekte Aufnahme. Helene Schneidermann, Sibylla Rubens, Angelika
Kirchschlager, Christine Schäfer, Michael Volle, Christian Gerhaher und
viele andere bauen Brücken vom schlichten Volkslied zum anspruchsvollen
Kunstlied. Die Anordnung auf der CD und im Klavierband ist so angelegt, dass
sich das Leichte mit dem Schweren mischt, das Unbekannte auf das Bekannte
folgt. Bei den anspruchsvollen Kunstliedern wurden anstelle der meist sehr
hohen Originaltonarten mittlere Tonarten gewählt, um das Singen mit Kindern
zu erleichtern.
"Heidschibumbeidschi" handelt vom Tod
Christian Prégardien, der das erste Lied auf der CD singt, macht dies
erwartungsgemäß vorbildlich. Schwerelos, schlicht und unerhört zärtlich
singt er "Der Mond ist aufgegangen". In der vierten Strophe des Liedes wird
um einen sanften Tod gebeten. Wie nahe früher die Wiege der Bahre war, das
ist im Lauf der Zeit gründlich vergessen worden. In den religiösen, aber
auch in den weltlichen Schlafliedern wird nicht nur die Sorge vor
Krankheiten thematisiert ( "Guten Abend, gut Nacht"), sondern auch die
ständige Angst, dass der Tod das Kind vor der Zeit holen könnte.
Die Eltern Jonas Kaufmann und Margarete Joswig haben die ursprüngliche
Fassung von "Aber heidschi bumbeidschi" eingespielt. Wer weiß noch, dass der
"Heidschibumbeidschi" eigentlich der Tod ist, der das Bübchen holt? Kaum zu
ertragen, wie ergeben, gefasst und tröstend die beiden das Lied singen. Kaum
zu fassen, dass dieses und so viele andere wunderbare Wiegenlieder vergessen
sind. Aber es ist ja nicht zu spät. Dank dieser kostbaren Edition, um die
man als Weihnachtsgeschenk gar nicht herumkommen kann.
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