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Die Zeit, 14. März 2013 |
VON CHRISTINE LEMKE-MATWEY |
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Mild und leise |
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Sängerkrieg? Von wegen: Mit Wagner
retten Jonas Kaufmann und Klaus Florian Vogt die Zukunft des Heldentenors |
Foto:
Mathias Bothor/photoselection |
Die
Frage klingt obszön – und muss trotzdem gestellt werden: Wer hat denn nun
den Längsten? Numerisch ist die Antwort rasch gefunden: Der Däne Lauritz
Melchior hat ihn, den Längsten von allen, 1940 an der New Yorker Met, mit
sagenhaften 17 Sekunden. 17 Sekunden lang hält er den ersten »Wälse!«-Ruf
des Siegmund in Richard Wagners Walküre, immerhin ein hohes Ges und im
Fortissimo. Dagegen nehmen sich Vertreter nachfolgender Tenorgenerationen
wie Ramón Vinay (acht Sekunden), Mario del Monaco (sechs), Jess Thomas
(sieben) oder Peter Hofmann (nur fünf) geradezu mickrig aus. Doch ist Länge
das entscheidende Kriterium? Sind Ausdruck und Kraft, Sinn und Sinnlichkeit,
Verstand und dramatische Leidenschaft für die Wagner-Stimme nicht mindestens
so wichtig, für die männliche und ihre Autorität zumal?
Melchiors
einsamer Rekord sagt alles und nichts. Alles: weil Wagners Heldentenöre, als
Alter Ego ihres Schöpfers, eine Potenz, einen Eros verkörpern, der jedes
menschliche Maß übersteigt. Heldentenöre sind keine Hänflinge, dürfen es
nicht sein, weder im Herzen noch von Statur. Und nichts: weil Siegmunds
sogenannter Schwert-Monolog in der dritten Szene des ersten Aktes der
Walküre, der mit den berüchtigten »Wälse!«-Rufen, sich erst im Oszillieren
entfaltet – zwischen Affekt und Kalkül, Todesahnung und Liebesbanden,
zwischen Vatermordgelüsten und der eher unheroischen Angst, von allen Vätern
und Göttern verlassen zu sein. Wotan, der Wälse, Siegmunds Vater, hat dem
Sohn einst ein Schwert versprochen, für Zeiten »höchster Not«, dies gilt es
nun, in der Not, zu finden.
Was nichts anderes bedeutet, als dass der
Mann bei Wagner gern zum Phallussymbol greift, um sich seiner und der Welt
zu vergewissern. Mit Testosteron und stimmlicher Prahlerei allein kommt er
hier trotzdem nicht weit, kam er noch nie. Weshalb man sich um die Zukunft
des Wagner-Gesangs Sorgen macht, seit es den Wagner-Gesang gibt.
Wenn
nun Jonas Kaufmann, Deutschlands derzeit attraktivster Wagner-Tenor, »Wälse!
Wälse! / Wo ist dein Schwert?« singt, dann bringt er es auf beträchtliche
zehn Sekunden im ersten und auf elf im zweiten Ruf. Das Ganze ist eine
Demonstration der Kraft und des unbedingten Wagner-Willens, fast trotzig,
hört her, ich kann’s! – und weht doch wie ein Gruß aus einer fernen, lange
versunkenen und längst verloren geglaubten Vergangenheit herüber: sehr
sinnlich, sehr baritonal, voll »männlich schönem Stimmklang«, um es mit
Wagners Worten zu sagen, und von lupenreiner Textverständlichkeit.
Wie macht der Mann das, fragt man sich, und woher kommt die plötzliche
Einsicht, dass gerade der Wagner des Rings, der ästhetisch durchgereifte
also, mehr von Bellini und einem aufgeklärten Belcanto her zu denken ist als
von jenen zotteligen Gesellen mit Hellebarde und Bärenfell, die man aus der
Aufführungspraxis des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts kennt?
Fast nonchalant, mit Italianità und viel Legato, auf der Grundlage eines
peniblen Studiums des Notentextes vor allem wischt Kaufmann hier das ganze
notorische Krisengefasel um seinen Berufsstand vom Tisch. Und dies, obwohl
Donald Runnicles und das Orchester der Deutschen Oper Berlin, die ihn auf
seinem Wagner-Album begleiten, von Haus aus mehr zum gröberen Klangbesteck
neigen. Doch auch sie lassen sich infizieren, schweben auf seidenweichen
Piano-Matten, schwelgen in Farben, reden, argumentieren, machen klar, was
Rhetorik bei Wagner überhaupt heißt. So dämonisch, so schwarzgalligbitter
hat man die Romerzählung des Tannhäuser selten gehört, nicht im Blech, nicht
in des gefallenen Minnesängers Selbsthass und Hohn. Verse wie »Hast du so
böse Lust geteilt? « zischt Kaufmann förmlich nur zwischen den Zähnen
hervor.
Wer nun den eigenen Ohren oder Arien-Alben als Arien-Alben
nicht traut, weil sie per se nur Bonbons bieten und weil im Plattenstudio
immer aufgehübscht wird, der höre Kaufmanns aktuelle, fast zeitgleich
erschienene Gesamteinspielung der Walküre (mit dem Orchester des
Mariinski-Theaters unter Valery Gergiev): Da mögen die »Wälse!«-Rufe zwar
kürzer ausfallen – was nicht zuletzt eine Frage der Freizügigkeit ist, die
der Dirigent dem Sänger gewährt –, an Kaufmanns heldisch-virilem Timbre
aber, an seiner osmotischen Intelligenz, seiner Intuition ändert das wenig.
Dieser Wälsung wirft sich nicht blindlings dem Schicksal an den Hals,
sondern hat ein klares Gespür für das, was ihm widerfährt, ist Melancholiker
von Geburt. Das lehrt Kaufmanns Interpretationsansatz, und anders machte die
ganze glitzernde Leitmotiv-Technik des Rings auch keinen Sinn.
Kaufmann belebt damit eine sängerische Traditionslinie, die von Wagners
persönlichen Lieblingen Joseph Tichatschek und Ludwig Schnorr von Carolsfeld
(von denen wir nicht wissen, wie sie als Lohengrin oder Tristan klangen) bis
zu moderneren Figuren wie Lauritz Melchior oder Franz Völker reicht und nach
1945 abreißt: der Heldentenor als geschlechtsreifes Wesen, als Mann von Welt
– und nicht als Metaphysikum. Neu-Bayreuth indes mit seinen »lateinischen«
(sprich: antiteutonischen) Dirigenten und Lesarten, die Aufwertung der Regie
im Wagnerschen Gesamtkunstwerk, das schnelle und immer schnellere Leben, die
mit der Langspielplatte einsetzende Kommerzialisierung der Klassik – all das
bringt einen neuen Typus hervor. Heller, schlanker und sachlicher kommt er
daher, heißt Wolfgang Windgassen oder René Kollo und wäre dem Meister selbst
gewiss ein Dorn im Ohr.
Spätestens seit seinem Misserfolg an der
Pariser Oper, der Niederlage gegen Meyerbeer, schob Wagner einen Hass auf
alles Alemannische. Für die Physiognomie des Tenors bedeutete das: keine
Reminiszenzen ans alte Kastratenwesen, bloß nichts Anämisches, irgend
Fisteliges! Dass er seine künstlerischen Entscheidungen gern störrisch
fällte, gegen die Konkurrenz, gegen die Tradition, schon aus Prinzip, und
von der Rezeption just an diesen neuralgischen Punkten oft eingeholt, ja
widerlegt wurde, gehört zur speziellen Ironie des Umgangs mit seinem Werk.
Was aber hätte Wagner zu Klaus Florian Vogt gesagt, Deutschlands derzeit
umschwärmtestem dramatischem Tenor, der zeitgleich mit Kaufmann ein auch vom
Repertoire her nahezu deckungsgleiches Wagner-Album veröffentlicht hat?
Würde er in ein neuerliches Lamento über das »Tenoristenwesen« ausbrechen,
darüber, dass Physis und Geist, Ausdruck und Potenz ein an der so verflucht
selten das Wasser reichen?
Wobei der Gegensatz so simpel natürlich
nicht ist. Man mag historisch unterstellen, was man will: Wie Kaufmann nicht
Wagners Sexbombe ist, jedenfalls nicht im vulgären Sinn, ist Vogt nicht der
Mann ohne Unterleib, der Weißling und Chorknabe, den man auf Anhieb zu hören
meint, jedenfalls nicht nur. Dialektisch wird eher ein Schuh draus: Vogts
Leichtigkeit, sein lyrisch-naives Platin-Timbre, trifft sich genau da mit
Kaufmanns sentimentalischen Qualitäten, wo es darum geht, das Heldische zu
fassen. Kaufmann sagt, das hohe Ges sei eine Frage der Konditionierung, des
Sängerkörpers wie der Sängerseele. In entsprechender Verfassung ließen sich
alle Affekte bewältigen. Vogt sagt, das hohe Ges entspringe der Fantasie,
der Imagination und löse sich in seiner Künstlichkeit, seinem
Überforderungsmoment vom rein Körperlichen schon mal ab. Prompt klingen
seine »Wälse!«-Rufe (je sieben Sekunden lang) ein wenig nach dem
sprichwörtlichen Pfeifen in der Dunkelheit: Dieser Siegmund tritt zwar die
Flucht nach vorn an, trifft dort vorn aber immer nur auf sich selbst.
Kaufmanns Siegmund greift an, Wälse-Wotan, den Vater, Hunding, den tumben
Rivalen, und weiß, dass er am Ende gar nichts anderes als den Tod finden
kann.
Die Frage, welcher der beiden Interpreten nun der größere,
strahlendere, Wagnerschere Sieger sei, geht in jedem Fall fehl. Kaufmann
zeigt den exemplarischen Negativhelden der Moderne, das Individuum im
Bewusstsein seines Scheiterns am System. Vogt zeigt den Romantiker, der
Wagner auch ist, denkt den Komponisten eher von Lortzing und der deutschen
Spieloper her (was die Bamberger Symphoniker unter Jonathan Nott tapfer
mittragen). Legitim sind beide Konzepte. Richtig spannend aber wird es erst
jenseits des Siegmund: Beim Siegfried-Siegfried etwa, den Kaufmann
sanguinisch brabbeln lässt und ins duftigste Waldweben setzt (lustigerweise
genau in der Szene – »Dass der mein Vater nicht ist« –, die Vogt für sein
CD-Cover antizipiert, da sieht man ihn nämlich am Stamm einer Linde lehnen,
wie Jung-Siegfried im Stück). Bei Vogt wiederum, in der Götterdämmerung,
feiert Siegfried mehr Auferstehung, als dass er stirbt, mit einem geradezu
ungerührten Glauben an die Liebe und ein Leben nach dem Tod (»Brünnhilde!
Heil’ge Braut!«). In beiden Fällen allerdings muss die Bühne abgewartet
werden, denn erst dort, nach vier respektive fünf Stunden Wagner-Dienst,
zeigt sich, wie sich die jeweilige sängerische Konstitution mit der
Monstrosität des Kunstanspruchs verträgt.
Und der abschließende
Befund zur Krise? Es ist alles nicht nur nicht so schlimm, glaubt man diesen
beiden Soloalben, sondern sogar ziemlich gut. So gut, so profiliert und –
man kann es nicht genug rühmen! – mit solcher Lust an der
Textverständlichkeit und an Wagners Wortwülsten wie schon lange nicht mehr.
Angst macht einem da höchstens, mit welcher Aggressivität sich die
Wagner-Welt um Vogt und Kaufmann reißt und rauft und weiter reißen wird. Das
mag auch damit zu tun haben, dass im hochdramatischen Damenfach, bei den
Isolden, Brünnhilden und Kundrys, kaum Vergleichbares zu finden ist. Als
redete Richard Wagner, der große Frauenprojizierer, im 21. Jahrhundert nicht
länger dem »Weib der Zukunft« das Wort, sondern den Kerlen.
Was für
eine Utopie.
Jonas Kaufmann hat sich in dieser Hinsicht längst
emanzipiert. Nicht nur, dass es Mut und Chuzpe erfordert, als Tenor ein
Wagner-Album ausgerechnet mit den Wesendonck-Liedern zu beschließen (auf
Gedichte von Wagners Muse Mathilde Wesendonck und für Frauenstimme
geschrieben); vor allem, wie er das macht, mit welcher Hingabe und
Zärtlichkeit, empfänglich für jede Nuance dieser Tristan-schwangeren
Vertonungen, Harmonien schmeckend, Silben modellierend – das treibt beim
Hören den Puls in die Höhe. Lässt Körpersäfte schießen. Wenn Kunst so von
der Nichterfüllung unseres Begehrens handelt, dann wollen wir dafür dankbar
sein.
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