Sein
Werther an der Pariser Oper 2010 zählt für mich zu den
eindringlichsten Rollenporträts des Jonas Kaufmann. Es waren
hoch memorable Abende an der Bastille. In der Inszenierung des
Cineasten Benoît Jaquot und der musikalischen Leitung vom Michel
Plasson gelang dem berühmte deutschen „Empfindsamen“ die volle
Identifikation mit dieser Goethe’schen Figur im französischen
Gewande. Gesang, Bewegung und Charakterisierungskunst gingen
damals eine seltene Einheit ein. Mit romantischer Lockenpracht,
dunklen, melancholisch-schwärmerischen Augen, einer reichen
stimmlichen Suggestionskraft, die Liebe, Sehnsucht, Wut und
Todesnähe eindringlich zu beschwören vermochte, war Jonas
Kaufmann ein sympathisch gewinnender Werther wie aus dem
Bilderbuch geschnitten. Sein stimmliches Vorbild ist hier hörbar
Georges Thill (Aufnahme von 1931).
Sieben Jahre später
legt Kaufmann seine erste, rein französischer Opernliteratur
gewidmete CD vor. Gemeinsam mit dem Bayerischen Staatsorchester
unter der emotional schaumgebremsten Stabführung von Bertrand de
Billy hat Jonas Kaufmann mehr oder weniger bekannte Arien von
Charles Gounod („Romeo et Juliette“), Jules Massenet („Werther“,
„Manon“, „Le Cid“), Ambroise Thomas („Mignon“), Edouard Lalo
(„Le Roi d’Ys“, Jaques Offenbach („Les Contes
d’Hoffmann“),Meyerbeer („L’Africaine“), Fromental Halévy („La
Juive“), Georges Bizet („Carmen“) und Hector Berlioz („La
Damnation de Faust“, „Les Troyens“) eingespielt. In den Duetten
aus Manon (2. und 3. Akt) bzw. den Perlenfischern assistieren
(im Gegensatz zum Puccini Album „Nessun dorma“, wo Kristine
Opolais im Duett als Manon Lescaut nur eine stark durchwachsenen
Leistung bot) äußerst luxuriös Sonya Yoncheva und Ludovic
Tézier.
Die Stimme von Jonas Kaufmann ist im Vergleich
zum Pariser Werther schwerer manövrierbar und dunkler geworden.
Prägten den Werther 2010 noch leichte Eleganz, lyrischer
Überschwang und sanfte Melancholie, so sind nun dramatischer
Impetus und die spezifische Intensität der Ausschöpfung der
eigenen Grenze dazugekommen. Es ist eine Tenorstimme im
Spätsommer, wo extreme Höhen bisweilen nur mit Hochdruck
anspringen. Die stählerne Beimischung zum rauchig edlen Timbre
wächst ebenso. Viele werden von den überwältigenden
Farbennuancen, der Verfeinerung in der Wort- Tonabmischung und
dem Reichtum an emotionaler Klangdramaturgie begeistert sein.
Wie das Jonas Kaufmann im Gespräch mit Thomas Voigt selbst so
für das „deutsch-französische Verhältnis“ in Offenbachs Hoffmann
formuliert, verbindet auch der Sänger Kaufmann „idealsymbiotisch
deutschen Tiefsinn mit französischer Fantasie“.
Nicht
alle Stücke gelingen gleichermaßen gut. In der derzeitigen
stimmlichen Verfasstheit sind sein Enée aus „Les Troyens“ und
sein Faust aus „La Damnation de Faust“ von Berlioz schlichtweg
ideale Rollen für Kaufmann. Man kann nur hoffen, dass Die
Trojaner nach der Absage der Londoner Serie doch noch
irgendeinmal kommen werden. Für mich ist Kaufmann von
Künstlertypus und stilistischer Passgenauigkeit her ohnedies am
besten im französischen Fach aufgehoben. Massenet und Gounod
sind ihm in die Wiege gelegt, sein Don José ist legendär. Nur
hätte man in Anbetracht der bereits existierenden
Carmen-Gesamtaufnahmen auf die „Blumenarie“ zugunsten einer
anderen Rarität durchaus verzichten können. Hoffmann und Wilhelm
(„Mignon“) kommen spät, am bewegendsten ist vielleicht die Arie
„Rachel, quand du Seigneur“ aus „La Juive“. Aber auch bei
Meyerbeer gäbe es der Kostprobe „Ô Paradis“ nach zu schließen
noch Lohnendes für Kaufmann auf der Bühne zu entdecken.
Wahrscheinlich fände ich auch einen Samson (Saint-Saëns)
aufregender als seinen Verdi Otello.
Das Coverfoto zeigt
Kaufmann vor der Kulisse des Zuschauerraums im Palais Garnier
relativ natürlich. Hier ist man Gott sei Dank einmal ohne
exzessive Fotoshop-Bearbeitung wie beim Album „Dolce Vita“
ausgekommen.
Abseits der eingeschworenen Fangemeinde ist
diese CD allen Freunden der frz. Grand Opera groß ans Herz
gelegt |