Badische Zeitung, 24. August 2012
Alexander Dick
 
Da schwitzt nichts
 
Friedrich Nietzsche hätte mutmaßlich seine Freude gehabt: "Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht", schrieb er in seiner Streitschrift "Der Fall Wagner" über Georges Bizets "Carmen", für ihn der Gegenentwurf zum "Wasserdampf des Wagnerischen Ideals". Leicht, biegsam und – nicht schwitzend kommt sie daher, die neue Gesamtaufnahme der Oper, basierend auf der diesjährigen Salzburger (Oster-)Festspielproduktion (siehe auch BZ vom 21. August). Operngesamtaufnahmen nur auf CD sind mittlerweile eher Seltenheit geworden; insofern scheint EMI-Classics große Hoffnung in die Popularität des Stücks zu setzen. Und seiner Interpreten. Die Rechnung könnte aufgehen. Was Simon Rattle am Pult seiner Berliner Philharmoniker aus der Partitur herauskitzelt, unterstreicht Nietzsches Einschätzung. Es steckt viel opéra comique in dieser Interpretation, viel von der vitalen Handschrift ihres Schöpfers. Phantastisch, welch sinnliche, aber nie schwülstige Exotik Rattle und dieses phänomenale Orchester etwa dem Auftritt der Zigarettenfabrikarbeiterinnen im ersten Akt angedeihen lassen. Hinreißend auch, wie sie dem Stilpluralismus dieses Meisterwerks zwischen Operette und Verismo gerecht werden. Wobei Offenbach näher ist als Puccini. Was – natürlich – an der Titelfigur liegt: Magdalena Kozená entspricht so gar nicht den klanglichen Vorstellungen einer hochdramatischen Femme-fatale. Ihre Carmen ist eine den Vorstellungen der Opéra comique angemessene, kokett-bewegliche Spielvariante, die die Abgründe der Figur gleichwohl erahnen lässt. Geradezu sensationell singen Jonas Kaufmann und Genia Kühmeier: Das große Duett Don José–Micaëla aus dem ersten Akt hat man selten so berührend und technisch perfekt erlebt. Schon deshalb gehört diese Aufnahme in den Plattenschrank aller "Carmen"-Bewunderer.

 
 






 
 
  www.jkaufmann.info back top